Wieder einmal hat Gaza uns überrascht und überwältigt. Wer hätte am 6. Oktober 2023 gedacht, mit welcher Wucht sich dieses Freiluftgefängnis erheben kann? Wer hätte im November 2023 geahnt, wie lange und mit welcher Vehemenz die Menschen und der Widerstand im Gazastreifen dem zionistischen Terror standhalten würden? Wer hätte vor zwei Wochen erwartet, dass die Palästinenser jetzt einen derartigen Sieg feiern können?
Nach 470 Tagen des Genozids gilt seit Sonntag ein Waffenstillstand zwischen dem palästinensischen Widerstands in Gaza und dem zionistischen Kolonialregime. Dieser Waffenstillstand ist verbunden mit dem Austausch von Gefangenen – 2.000 palästinensische Inhaftierte sollen aus den zionistischen Folterkellern entlassen werden, darunter zahlreiche Minderjährige und zu lebenslanger Haft Verurteilte –, dem Zulassen humanitärer Hilfe für Gaza – 600 LKWs pro Tag –, der Rückkehr der Menschen in den nördlichen Gazastreifen und der Öffnung des Grenzübergangs von Rafah. All das soll innerhalb der ersten Stunden und Tage umgesetzt werden. Hinzu kommen der schrittweise und relativ weitgehende Rückzug der zionistischen Besatzungstruppen, die Öffnung der Grenzen Gazas für Waren- und Personenverkehr, der Wiederaufbau und ein dauerhafter Waffenstillstand. Im Gegenzug lässt der Widerstand schrittweise die im Gazastreifen festgehaltenen israelischen Gefangenen frei.1
Keine Illusionen in die Kolonialherren und ihre Vasallen!
Selbstverständlich trauen wir den Zionisten kein Stück. Sie haben schon immer gelogen, betrogen und Verträge gebrochen, wo sie nur konnten. Die Garantiemächte des Waffenstillstands sind nicht besser: Die USA sind die führende imperialistische Weltmacht, verantwortlich für unzählige Aggressionen, Angriffskriege und Völkermorde. Und noch dazu sind sie der wichtigste Verbündete des zionistischen Regimes. Ägypten hat die Palästinenser seit 1978 stets verraten und sich fest an die Seite des Westens gestellt. Außerdem ist es Komplize bei der völkerrechtswidrigen Hungerblockade gegen den Gazastreifen und das aktuelle Regime unter al-Sisi gehört zu den brutalsten und korruptesten Schlächtern unter den arabischen Machthabern. Und schließlich ist da Qatar, das noch als am palästinenser- und Hamas-freundlichsten unter den dreien gelten kann. Doch ist die Monarchie ebenfalls eng an den Westen gebunden und fördert aktiv opportunistische Einflüsse innerhalb des palästinensischen Widerstands.
Es gibt bereits Berichte, dass die zionistischen Besatzer den Waffenstillstand gebrochen und Palästinenser im Gazastreifen beschossen haben.2 Und Netanyahu hat betont, dass sowohl Biden als auch Trump ihm die Erlaubnis gegeben haben, den Waffenstillstand jederzeit zu beenden.3 Auch geht der zionistische Besatzer- und Siedlerterror in der Westbank unvermindert weiter.4 Israel hält zudem große Teile Syriens besetzt und ein erneuter Krieg gegen den Libanon oder auch ein großangelegte Krieg mit unvorhersehbaren Folgen gegen den Iran sind weiterhin realistisch.
Ein Sieg für den palästinensischen Widerstand
Und doch – trotz all dieser Einschränkungen und Sorgen und trotz der Tatsache, dass der Waffenstillstand das Leben hunderttausender Menschen und die Zerstörung von weiten Teilen des Gazastreifens gekostet hat und dass er kein Ende der seit fast zwei Jahrzehnten bestehenden Blockade bringen wird – handelt es sich um einen Sieg des Widerstands!
Israel hat keines seiner Ziele erreicht: Die Vernichtung des Widerstands, die militärische Befreiung der Kriegsgefangenen, die komplette ethnische Säuberung des Gazastreifens, die Besiedlung von Nordgaza oder auch nur die Einrichtung einer „Pufferzone – all diese Ziele sind gescheitert. Diese Ziele konnte man doppelt herleiten: Zum einen aus der Strategie des zionistischen Siedlerkolonialismus zur vollständigen Eroberung Palästinas. Zum anderen aus der Notwendigkeit, die Sicherheit und Stabilität der zionistischen Entität wiederherzustellen, die am 7. Oktober 2023 so massiv erschüttert wurden. Hier sei zudem darauf verwiesen, dass auch der Waffenstillstand mit der Hisbollah bislang nicht zur Rückkehr der aus dem Norden Israels geflohenen Siedler geführt hat.
Diese Erschütterung hat die bestehenden Risse in der zionistischen Siedlergesellschaft weiter vertieft und massive Verwerfungen hervorgerufen: Wirtschafts- und Regierungskrisen, Binnenflucht und Massenauswanderung, Straßenschlachten und Ausweitungen der Wehrpflicht. Der Waffenstillstand ist der nächste Spaltpilz: Viele, gerade im Regierungslager, sehen in diesem Abkommen eine Kapitulation Israels. Der Faschist Ben Gvir ist mit seiner Partei aus Protest bereits aus Netanyahus rechtsradikaler Regierung ausgetreten. Und tatsächlich: Das Abkommen entspricht relativ genau einem Vorschlag der Hamas vom letzten Sommer.5 Dass die israelische Regierung das damalige Abkommen ablehnte, zeigt, dass es nicht in ihrem Sinne ist.
Die Operation „Al-Aqsa-Flut“ ist mit dem Waffenstillstand perspektivisch zu ihrem relativ erfolgreichen Abschluss gekommen: Das Ziel, den Mythos der Unbesiegbarkeit Israels zu zerstören, war absolut erfolgreich. Die Befreiung tausender Palästinenser, die von der Besatzungsmacht eingekerkert wurden, ist ein weiterer wichtiger Erfolg – auch wenn die Zionisten bereits damit begonnen haben, neue Palästinenser zu entführen.6 Das Ziel, die „Normalisierungspolitik“ der arabischen und muslimischen Länder gegenüber dem zionistischen Kolonialregime nachhaltig zu stören, hat einigermaßen funktioniert, auch wenn sich gezeigt hat, dass Saudi-Arabien, die Emirate, Marokko, die Türkei und Ägypten unverbesserliche Opportunisten und Kollaborateure gegenüber dem Zionismus sind. Das Ziel, die Welt auf die Lage der Palästinenser aufmerksam zu machen und Israel vor aller Augen als den barbarischen Terrorstaat zu entlarven, der er ist, war dagegen vollkommen erfolgreich. Die weltweiten Massenproteste und die Anklagen vor dem IGH und dem Internationalen Strafgerichtshof sind wichtige Ausdrücke davon. Was dagegen bislang nicht erreicht werden konnte, ist, die Besetzung und Blockade des Gazastreifens zu beenden. Dieses Ziel war das wohl wichtigste, aber auch das am höchsten gesteckte.
Der 15-monatige Krieg hat nicht nur die Stärke und das Durchhaltevermögen des Widerstands in Gaza demonstriert – die Widerstandskräfte konnten ihre Reihen immer wieder nachfüllen und verfügen übereinstimmenden Berichten zufolge über so viele Kämpfer wie vor dem Oktober 2023. Er hat den Widerstand auch politisch weiter gestärkt. Und zwar über den Gazastreifen hinaus. Die arroganten Kolonialherren, die Ende 2023 behaupteten, die Hamas habe sich als politischer Akteur disqualifiziert, wurden durch die Realität widerlegt: Niemand wird nun mehr an der Hamas vorbeikommen! Israel nicht, die Regierungen der Region nicht, die UNO nicht, Mahmoud Abbas nicht. Eine Garantie auf die palästinensische Einheit, die im Sommer in Peking vereinbart wurde, gibt es weiterhin nicht. Aber sie ist mit einem gestärkten Widerstand in Gaza realistischer.
Hinzu kommt die Einheit der Widerstandskräfte in der Region, die trotz des Umsturzes in Syrien heute größer ist als vor dem 7. Oktober 2023. Vom 8. Oktober an hatte sich der libanesische Widerstand an die Seite Gazas gestellt – und zwar ohne Bedingung. Ähnliches gilt für den Jemen. Dieser hat sich nun sogar als faktische Garantiemacht hinter den Waffenstillstand gestellt: Auch Sanaa wird Israel nicht mehr angreifen, solange der Genozid in Gaza beendet ist – doch man werde sofort wieder zuschlagen, wenn der zionistische Terror weitergeht, erklärte der Sprecher der jemenitischen Armee.7 Und schließlich sind auch der Iran sowie bewaffnete Kräfte im Irak und in Syrien militärisch gegen das zionistische Regime vorgegangen. Dabei haben all diese Akteure stets ihre Einheit und Brüderlichkeit betont. 470 Tage lang wurde der Welt vor Augen geführt, dass es tatsächlich eine Achse des Widerstands gibt.
Es gibt Stimmen, die sagen, dass man angesichts der Zerstörungen und des erlittenen Völkermords nicht von einem Sieg sprechen könne. Zumal kein Ende der Besatzung und der Blockade des Gazastreifens und erst recht kein Ende des Kolonialismus in Palästina erreicht wurde. Dem lässt sich vor allem eines entgegenhalten: Das zionistische Kolonialprojekt befindet sich in einer tödlichen Krise. Strategisch ist es auf der Verliererstraße. Die Palästinenser müssen vor allem zwei Dinge tun, um es endgültig zu besiegen: 1. Sie müssen ihm möglichst viele Nadelstiche und möglichst heftige Schläge versetzen. Und 2. müssen sie durchhalten. Der 7. Oktober war ein solcher heftiger Schlag. Ob der Waffenstillstand ein weiterer Schlag oder nur ein Nadelstich ist, muss sich noch zeigen. Dass die Palästinenser auch unter den unmenschlichsten Bedingungen ausharren können, haben sie immer wieder bewiesen – ganz im Gegensatz zu den Siedlern. Das ist auch der Grund, wieso Israel zu ihrer massenhaften physischen Vernichtung übergegangen ist. Umso wichtiger war es – nicht nur aus menschlicher, sondern auch aus strategischer Sicht –, dieses Abschlachten zu stoppen. Der Waffenstillstand bedeutet damit nicht nur ein Ende der schrecklichsten Auswüchse des zionistischen Terrors. Er dürfte auch ein weiterer Nagel im Sarg des Zionismus sein.
Gaza wird nicht untergehen!
Wie gesagt: Nichts garantiert, dass der Waffenstillstand lange hält. Und wir wissen auch, dass der Kampf für die Befreiung Palästinas und der Region von Imperialismus und zionistischem Kolonialismus weitergehen muss und weitergehen wird. Ob es sich nur um einen taktischen Sieg und eine kurze Verschnaufpause oder aber um einen strategischen Sieg über das zionistische Gebilde handelt, bleibt abzuwarten. In jedem Fall aber zeigt dieses Abkommen, genau wie die Bilder, die uns aus Gaza und der Westbank erreichen – Bilder von den jubelnden Massen, den Menschen, die in ihre Wohnorte zurückkehren, von den heldenhaften Sanitätern, Ärzten und Journalisten, von den unzähligen Fidayin und Sicherheitskräften, die sich nun wieder offen in den Straßen zeigen, von den Freigelassenen, die nach Hause zurückkehren – dass Gaza nicht besiegt und nicht gebrochen ist. Der Widerstand dort ist ein Volkswiderstand. Tief in den Massen verankert, rekrutiert er sich aus ihnen und bewegt sich wie ein Fisch im Wasser unter ihnen.
Und diese Massen sind nicht irgendwelche Massen. Die Palästinenser und insbesondere die Menschen in Gaza kämpfen seit über hundert Jahren für ihre Rechte. Und sie haben der Welt einmal mehr vor Augen geführt, dass sie nicht nur ungeheures Leid ertragen und ungeheure Anstrengungen auf sich nehmen können – sondern dass sie dazu auch bereit sind, um ihre Heimat zu verteidigen! Ihre Stärke ist kaum in Worte zu fassen und erst recht kaum zu begreifen. Gaza ist im wahrsten Sinne unbeugsam, unbezähmbar und deshalb auch unbesiegt und unbesiegbar.
In diesem Podcast geht es um Migration, eines der Lieblingsthemen beinahe aller Parteien in Wahlkampfzeiten. Offensichtlich dient der herrschende Migrationsdiskurs der Ablenkung von brennenden politischen Fragen und Migranten dienen als Sündenböcke für soziales Elend.
Wir diskutieren Anmerkungen von Lenin zur Migrationsfrage vor 100 Jahren, blicken auf Hintergründe und Realitäten von Migrationsbewegungen, diskutieren, wie der wirtschaftliche und rechtliche Druck auf Migranten der gesamten Arbeiterklasse schadet, wir blicken auf die Migrationspolitik des BSW und entwickeln eine antiimperialistische Perspektive auf Migration.
Mehr zum Thema:
„Migration, die Arbeiterklasse und der Imperialismus“ von Philipp Kissel – https://kommunistische-organisation.de/artikel/migration-die-arbeiterklasse-und-der-imperialismus/
„Import – Deport: Europäische Migrationsregime in Zeiten der Krise“ vom Zetkin Forum for Social Research – https://zetkin.forum/wp-content/uploads/2024/07/Immigration-brochure-German-PRINT-for-web.pdf – Lenin, Werke Band 19, S. 447 ff.
Lenin, Werke Band 26, 155 ff.
Lothar Elsner, Joachim Lehmann: Ausländische Arbeiter unter dem deutschen Imperialismus 1900 bis 1985, Dietz Berlin 1988
Wir veröffentlichen ein Update unserer Bewegungsschau zu den Veränderungen in Syrien. Wir werden in den nächsten Wochen weitere Updates veröffentlichen. Die Texte stellen nicht die Position der KO dar.
Bei diesem Text handelt sich um eine umfassendere Analyse der Situation nach dem Regime Change in Syrien der Gruppe 10Mehr. (https://english.10mehr.com) Der Name steht für das Gründungsdatum der Tudeh-Partei, der Kommunistischen Partei im Iran, nach dem iranischen Kalender: 10. Mehr 1320 (2. Oktober 1941). 10Mehr wurde von ehemaligen Tudeh-Kadern gegründet, die den antiimperialistischen Kampf, insbesondere gegen den US-Imperialismus, als Hauptaufgabe der aktuellen Epoche sehen. Sie kritisieren die neoliberale Politik der iranischen Staatsführung, wenden sich aber entschieden gegen alle (expliziten oder impliziten) Bemühungen, die Islamische Republik zu stürzen. Sie erkennen die Tudeh-Partei als einzige Partei der Arbeiterklasse Irans an, haben aber Kritik an der politischen Ausrichtung der Parteiführung und wollen im Rahmen ihrer Möglichkeiten „alternative Einschätzungen der globalen und nationalen Situation auf der Grundlage der wissenschaftlichen Prinzipien des Marxismus-Leninismus liefern.“ (https://english.10mehr.com/about-10mehr/)
Die wichtigsten Argumente des Textes sind:
Beim Sturz der Arabischen Republik handelt es sich um einen imperialistischen Regime Change, der insbesondere durch die schweren Sanktionen und militärischen Druck herbeigeführt wurde.
Es handelt sich um einen militärischen Rückschlag der Achse des Widerstands von vorübergehendem Charakter, nicht um eine Katastrophe oder volle Niederlage.
Die Niederlage steht im Kontext einer globalen Bewegung für die Beseitigung der Vorherrschaft des Imperialismus, in der es Aufs und Abs gibt. Sie ist geprägt vom wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, einer neuen Phase des Widerstands Russlands gegen den Imperialismus und dem Aufstand des palästinensischen Volks vom 7. Oktober.
Das militärische Kräfteverhältnis ist zugunsten des Imperialismus. China, Russland und Iran wissen das und vermeiden, in die Falle zu tappen und in eine militärische Eskalation hinein gezogen zu werden.
Der militärische Rückzug Russlands und Irans ermöglichte die Fortsetzung des ökonomischen, politischen und diplomatischen Kampfs.
Der Druck auf Iran nimmt zu, auch innenpolitisch. Ziel des Westens ist, Iran zu zersplittern und zu zerschlagen.
Jeder Schritt zur Kapitulation vor dem Westen muss verhindert werden, es darf kein Aufgeben der Widerstandsfront gegen den Imperialismus und der Revolution von 1979 geben.
Man muss sich gegen alle Illusionen über Absichten und Ziele des Imperialismus stellen. Der Iran muss die Nabelschnur trennen, die Abhängigkeiten Irans vom Westen beenden und strategische Beziehungen zu China und Russland stärken.
Die Nationale Einheit Irans muss gesichert werden. Soziale Spaltungen führen zu politischen Spaltungen. Die Sanktionen haben das Rückgrat der Wirtschaft gebrochen.
Die Präsenz der Massen ist die Voraussetzung für die erfolgreiche Verteidigung des Landes. Die Basis der Staatsmacht ist aber geschwächt. Deshalb muss die Organisation der Volksmassen vorangetrieben werden.
Über die militärische Besatzung und den Regime Change in Syrien und die Folgen für die Islamische Republik Iran und die Achse des Widerstands
Nach mehr als einem Jahrzehnt der militärischen Besetzung, der Verhängung eines Bürgerkriegs und tödlicher Wirtschaftssanktionen durch den US-Imperialismus und seine regionalen Verbündeten wurde die rechtmäßige Regierung Syriens schließlich in die Knie gezwungen, und die umbenannte Gruppe von Al-Qaida-Terroristen besetzte Damaskus in einem Blitzkrieg und setzte den langfristigen Plan des Imperialismus für einen Regime Change in Syrien mit direkter militärischer Hilfe der USA und Israels und mit Unterstützung der Türkei und der reaktionären Staaten der Region um.
Die jüngsten Entwicklungen in Syrien mit dem Einmarsch der Terrorgruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in Damaskus und dem Abzug von Bashar al-Assad aus dem Land werden tiefgreifende Folgen für die Achse des Widerstands, die Außenpolitik Irans und das Kräftegleichgewicht im Nahen Osten haben. Diese Entwicklungen haben zusammen mit der geschwächten militärischen Position der Hisbollah, der aufgrund des Ukraine-Konflikts reduzierten Präsenz Russlands in Syrien und der zweideutigen Politik der Türkei in der Region den Weg für eine Neubewertung der Rolle Irans in der Achse des Widerstands geebnet.
Der Sturz von Bashar al-Assad und die darauf folgenden Entwicklungen haben zu wichtigen Veränderungen in den regionalen und internationalen Gleichgewichten geführt. Diese Entwicklungen vollziehen sich im breiteren Kontext der geopolitischen Rivalitäten und Herausforderungen im Nahen Osten und in der Welt und können tiefgreifende Auswirkungen auf die Sicherheit und die strategischen Überlegungen Irans und seiner Verbündeten in der Achse des Widerstands haben. Dieses Ereignis hat sich nicht nur auf die geopolitischen Gleichungen des Nahen Ostens ausgewirkt, sondern wird wahrscheinlich auch zu neuen Ausrichtungen zwischen regionalen Staaten und globalen Mächten führen. Syrien, das jahrzehntelang ein wichtiges Glied in der Kette des Widerstands gegen Israel und die westlich-arabische Achse war, ist nun zu einem Schauplatz regionaler und internationaler Rivalitäten geworden.
Der Sturz von Bashar al-Assad bedeutet nicht nur das Ende einer Ära in der politischen Geschichte Syriens, sondern mit dem Verlust eines der wichtigsten Verbündeten des Irans im Nahen Osten wird die Achse des Widerstands in Syrien vor ernsthafte interne und externe Schwierigkeiten gestellt. Die Schwächung der Achse des Widerstands hat die Manövrierfähigkeit des Irans angesichts der Herausforderungen durch die verstärkte militärische Präsenz Israels, der Türkei und der Vereinigten Staaten beeinträchtigt.
Der schnelle Zusammenbruch des syrischen Staates undSchuldzuweisungen an Bashar al-Assad
Der rasche Zusammenbruch der syrischen Regierung hat viele, die die Machenschaften des Imperialismus und die objektiven, historischen globalen Trends nicht richtig verstehen und ihre Einschätzungen und Analysen nur auf momentane und vorübergehende Ereignisse stützen, dazu veranlasst, Bashar al-Assad und die syrische Regierung für die gegenwärtige Niederlage verantwortlich zu machen. Einige, die mit dem imperialistischen Sender CNN übereinstimmen, gehen sogar so weit, auf die schwierige Lage des syrischen Volkes, einschließlich der Wirtschaftskrise und der hohen Armutsrate in den letzten Jahren, zu verweisen und dieses Ereignis als „Volksrevolution“ gegen eine „inkompetente Diktatur“ zu bezeichnen. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch weder um eine „Volksrevolution“ noch um das Ergebnis der „Diktatur“ und „Unfähigkeit“ der Regierung von Bashar al-Assad.
Erstens: Keine „Volksrevolution“ wird militärisch und mit Hilfe des Imperialismus von außerhalb der Grenzen eines Landes angezettelt. Dieses Ereignis als „Revolution“ zu bezeichnen, kann nur bedeuten, die imperialistische Politik des Regime Changes in Syrien zu unterstützen und die von den USA und Israel ausgebildeten und bewaffneten Terroristen als „das Volk“ zu bezeichnen. Das ist nichts anderes, als die objektiven Tatsachen zu verdrehen, eine imperialistische „Konterrevolution“ als „Volksrevolution“ zu bezeichnen und damit dem Volk im Einklang mit der imperialistischen Propaganda Staub in die Augen zu streuen. Das gleiche Komplott wurde schon einmal im Jahr 2011 durchgeführt, und das syrische Volk hat trotz aller Schwierigkeiten, die durch die aufgezwungene Situation verursacht wurden, 14 Jahre lang zu seiner Regierung und seiner Armee gehalten. Ihr fassungsloses Schweigen heute kann und sollte nicht als Billigung dieser Konterrevolution verstanden werden. Der Weg ist viel zu lang. Ein wenig Geduld wird zeigen, wo das syrische Volk wirklich steht.
Zweitens würde man die Not der Menschen und die weit verbreitete Armut in Syrien nur dann der „Unfähigkeit“ der syrischen Regierung zuschreiben, wenn man die Jahrzehnte des aufgezwungenen Krieges, die tödlichen imperialistischen Wirtschaftssanktionen und den unverhohlenen Diebstahl der syrischen Ölressourcen durch die US-Besatzungstruppen ignoriert. Seit 1979 steht die syrische Regierung auf der US-Liste der „staatlichen Förderer des Terrorismus“ und unterliegt aufgrund ihrer entschiedenen und konsequenten Unterstützung der iranischen Revolution und der Hisbollah strengen Sanktionen; Sanktionen, die aufgrund des zunehmenden Widerstands der syrischen Regierung von Tag zu Tag strenger wurden und schließlich in Form des „Caesar Act“ ihre maximale Intensität erreicht haben, was seit 2019 zum Zusammenbruch der syrischen Wirtschaft führt. Der krasse Gegensatz zwischen Syriens blühender und wachsender Wirtschaft vor 2011 und den tödlichen Folgen dieser Sanktionen nach 2011 wird in einem von der „Sanctions Kill“ veröffentlichten Bericht Kampagne deutlich. Unsere Welt hat die gleichen historischen Fakten in den Fällen von Jugoslawien, Afghanistan, Libyen, Irak usw. erlebt – alles Regierungen, die vom Imperialismus gestürzt wurden. Diejenigen, die diese unbestreitbaren Tatsachen ignorieren und ihre Angriffe auf die Opfer statt auf den Imperialismus und Zionismus richten, werden, ob sie wollen oder nicht, zu den Propaganda-Sprachrohren der Feinde des Volkes.
„Strategische Niederlage“ oder schwerer militärischer Schlag?
Parallel zu diesen haltlosen Behauptungen über die „unfähige Diktatur“ Assads und die „Volksrevolution“ in Syrien gibt es auch die noch gefährlichere Behauptung, dass der Fall Syriens eine „strategische Niederlage“ für die Außenpolitik der Islamischen Republik Iran darstellt. Diese Behauptung wurde unmittelbar nach dem Einmarsch der Besatzungstruppen in Damaskus zur Schlagzeile der imperialistischen Medien und im Einklang mit ihnen der einheimischen prowestlichen Fraktionen und ihrer „Analysten“-Sprachrohre.
Es besteht kein Zweifel daran, dass dies eine sehr wichtige und in vielerlei Hinsicht entscheidende militärische Niederlage für die Widerstandsfront in der Region ist. Der Fall Syriens als einer der Hauptpfeiler der Achse des Widerstands und der Brücke zwischen Iran, Hisbollah und der Widerstandsbewegung in Palästina hat die militärische Effektivität der Widerstandsfront ernsthaft beschädigt. Der Fall Syriens hat die logistische Verbindung zwischen dem Iran und der Hisbollah unterbrochen und die Hisbollah vor ernsthafte Probleme bei der Beschaffung von Ausrüstung, Waffen und Ressourcen gestellt, die sie zur Fortsetzung ihres Widerstands gegen Israel benötigt. Andererseits haben Israel und sein ständiger Unterstützer, die Vereinigten Staaten, mit dem Fall Syriens und seinen geopolitischen Folgen freie Hand, die Region zu plündern. Israel hat seine militärische Vorherrschaft auf den Golanhöhen bereits ausgebaut, und israelische Panzer und Truppen sind bis in die Nähe von Damaskus vorgedrungen. Die Vereinigten Staaten wiederum bombardieren weiterhin syrische Städte, Militärbasen und -einrichtungen sowie die wirtschaftliche Infrastruktur und versuchen, die Möglichkeit der Entstehung jeglicher Form von Widerstand im neuen Syrien zu unterbinden. Die Region befindet sich nun in einer Situation, in der die Vereinigten Staaten und Israel es wagen, von einem direkten Angriff auf den Iran zu sprechen und die ethnische Auflösung des Landes anzustreben.
Aber nichts davon bedeutet eine „strategische Niederlage“ der Achse des Widerstands und der Regionalpolitik der Islamischen Republik Iran. Es liegt auf der Hand, dass eine solche große militärische Niederlage eine ernsthafte und eingehende Bewertung der neuen Situation, der in der Vergangenheit verfolgten Politiken und Taktiken, der neu auftretenden Gefahren und Bedrohungen sowie der fortbestehenden Möglichkeiten und Potenziale für die Achse des Widerstands und auf dieser Grundlage die Annahme neuer Taktiken erfordert, die den Anforderungen der neuen objektiven Bedingungen in der Region entsprechen. Solche Einschätzungen sollten jedoch nicht von einem Gefühl der Verzweiflung und einem unbegründeten Eingeständnis der „strategischen Niederlage“ der Achse des Widerstands und der Regionalpolitik der Islamischen Republik Iran geleitet sein. Vielmehr sollten sie mit dem Ziel durchgeführt werden, den Weg für eine erfolgreiche Fortsetzung des Kampfes zu ebnen, nachdem eine große, aber vorübergehende militärische Niederlage erlitten wurde.
Diejenigen, die heute von der „strategischen Niederlage“ der Achse des Widerstands und der Regionalpolitik der Islamischen Republik Iran sprechen, sprechen entweder für den US-Imperialismus und den zionistischen Staat Israel, die die „strategische Niederlage“ der Achse des Widerstands als Ziel und Interesse haben und sie erreichen wollen; oder sie sind die prowestlichen iranischen Kräfte, die von Anfang an gegen die gesamte „Widerstandsstrategie“ waren und nun in dieser militärischen Niederlage eine Gelegenheit sehen, die gesamte Widerstandsstrategie aufzugeben und in den Schoß der USA und des Westens zurückzukehren. Nach Ansicht dieser pro-westlichen Kräfte hat die militärische Niederlage in Syrien gezeigt, dass die Idee des Widerstands gegen die USA und Israel eine vergebliche und falsche Idee war und aufgegeben werden sollte. Einer solch fehlerhaften Argumentation folgend, könnte man auch sagen, dass das palästinensische Volk, das seit 75 Jahren gegen die verbrecherische israelische Besatzung und Unterdrückung kämpft, sich ebenfalls der militärischen Überlegenheit Israels hätte beugen und den Widerstand gegen die zionistischen Besatzer seiner Heimat nach der ersten militärischen Niederlage aufgeben müssen.
Für diejenigen, die sich dieser Perspektive wirklich verpflichtet fühlen, wird die Geschichte durch die objektiven Gesetze, die den Kampf der unterdrückten Massen bestimmen, ihr Urteil fällen. Unsere Botschaft richtet sich jedoch an diejenigen, die sich aufrichtig um die Zukunft der Revolution, die Unabhängigkeit unseres Landes und die territoriale Integrität unseres Heimatlandes sorgen: Diese militärische Niederlage ist nicht das Ende des Weges. Der Himmel ist nicht eingestürzt! Unter keinen Umständen dürfen wir zulassen, dass dieser Rückschlag für den Feind zu einem Mittel wird, um die Kämpfer zu verzweifeln oder sie davon abzuhalten, ihren strategischen Weg fortzusetzen, d.h. sich dem Imperialismus und dem Zionismus zu widersetzen und daran zu arbeiten, ihre Vorherrschaft in der Region zu beenden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist der Verlust einer bestimmten Festung zu verzeichnen. Auch wenn diese Niederlage bedeutsam ist, geht der breitere Befreiungskampf unvermindert weiter, und der Lauf der Geschichte begünstigt seinen endgültigen Sieg. Wir müssen den weisen Rat von Ayatollah Khamenei beherzigen: „Weder übertreiben noch herunterspielen“. Diesen Rat zu befolgen, ist heute wichtiger denn je.
Regionale Entwicklungen sollten im Zusammenhang mit dem Übergang zu einer multipolaren Welt verstanden werden
Der vorübergehende Charakter dieses militärischen Rückschlags wird deutlicher, wenn man die jüngsten regionalen Entwicklungen im Kontext des breiteren Kampfes für eine multipolare Welt betrachtet. Seit fast zwei Jahrzehnten formiert sich eine globale Bewegung zur Beseitigung der einseitigen Vorherrschaft des Imperialismus und gewinnt an Schwung, da sich die Völker in aller Welt nacheinander gegen diese Hegemonie erheben. Die unipolare Ordnung, die nach der Auflösung der Sowjetunion und des sozialistischen Blocks entstanden ist, befindet sich im Niedergang, und jeden Tag schließen sich mehr und mehr Nationen diesem globalen Kampf an.
Dieser Prozess, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem rasanten wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und der Wiedererlangung einer unabhängigen Rolle Russlands in der internationalen Politik begann, trat mit dem Einmarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine in eine neue qualitative Phase. Zum ersten Mal ging der Widerstand gegen die imperialistische Hegemonie von einer defensiven Haltung zu einem aktiven Engagement über. Russlands aufeinanderfolgende Siege in der Ukraine in Verbindung mit dem heldenhaften Aufstand des palästinensischen Volkes am 7. Oktober haben den imperialistischen Mächten, insbesondere den USA, gezeigt, dass ihre hegemoniale Ordnung sich ihrem Ende nähert. Sie haben erkannt, dass sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen müssen, um diesen Prozess aufzuhalten, bevor der Punkt erreicht ist, an dem es kein Zurück mehr gibt.
In diesem Zusammenhang wurde die Zerschlagung der Achse des Widerstands in der strategisch wichtigen Region des Nahen Ostens – deren Verlust den Übergang zu einer multipolaren Welt unumkehrbar machen könnte – zur obersten Priorität der imperialistischen Mächte. Diese Dringlichkeit wurde noch dadurch verstärkt, dass der Iran seine zögerliche Politik gegenüber dem Westen aufgegeben und sich unter der Regierung des gestorbenen Präsidenten Raisi auf Russland und China zubewegt hat und dass der Iran eine aktivere Rolle bei der Unterstützung der palästinensischen Befreiungsbewegung, der Hisbollah im Libanon und der Houthis im Jemen übernommen hat.
Die Aufgabe, die Achse des Widerstands zu zerschlagen, wurde dem zionistischen Staat Israel übertragen, dem größten militärischen Außenposten der Vereinigten Staaten im Nahen Osten. Israel erfüllte seinen Auftrag unter anderem durch den Völkermord im Gazastreifen, die Ermordung von politischen und militärischen Führern der Achse des Widerstands im Iran und im Libanon und die Bombardierung der iranischen Botschaft in Damaskus. Mit diesen Aktionen sollte der Iran eingeschüchtert und die Achse des Widerstands zur Kapitulation gezwungen werden. Die entschlossene Antwort Irans in Form der heroischen Operationen „True Promise 1“ und „True Promise 2“ sowie die Intensivierung des Widerstands in Palästina, Libanon und Jemen waren jedoch eine klare Botschaft an die USA und Israel, dass die Achse des Widerstands nicht die Absicht hat, sich zu ergeben, und dass die einzige Option, die ihnen bleibt, eine direkte militärische Intervention in Syrien ist, da es das entscheidende Bindeglied zwischen dem Iran und der Hisbollah ist – zumal jahrzehntelange lähmende Wirtschaftssanktionen und ein mehr als zehnjähriger Bürgerkrieg den syrischen Staat und sein Militär bereits in eine prekäre Lage gebracht haben, die das Land zu einem scheinbar reifen Ziel macht.
Warum haben der Iran und Russland nicht direkt interveniert
um den Sturz Assads zu verhindern?
Viele fragen sich nun, warum der Iran und Russland nicht direkt eingegriffen haben, um den Zusammenbruch der Regierung von Bashar al-Assad zu verhindern. Einige gehen sogar noch weiter und beschuldigen Russland des „Verrats“ und den Iran der „Untätigkeit“. Solche Behauptungen entbehren jedoch aus mehreren Gründen jeder objektiven Grundlage:
1. Der Übergang zu einer multipolaren Welt ist ein vielschichtiger und komplizierter Prozess, der die sorgfältige Platzierung und Abstimmung zahlreicher wirtschaftlicher, sozialer, politischer und diplomatischer Elemente auf der globalen Bühne erfordert. Jede Komponente muss vorbereitet und im Laufe der Zeit richtig positioniert werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegt der Schwerpunkt dieses Übergangs in erster Linie auf der Schaffung der Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, dem Aufbau politischer und diplomatischer Beziehungen und der Unterzeichnung von Kooperationsabkommen zwischen Nationen auf regionaler und globaler Ebene. Mit anderen Worten: Die Kontinuität und der Erfolg dieses Prozesses hängen von der Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes an Frieden und Ruhe auf internationaler Ebene ab. Auf der Gegenseite setzen die imperialistischen Mächte, die nicht in der Lage sind, diesem globalen Trend auf friedliche Weise entgegenzuwirken, auf das einzige ihnen zur Verfügung stehende Mittel – Militarismus und Krieg -, um dessen Fortschreiten zu stören und wenn möglich ganz zu stoppen. Länder wie China, Russland und der Iran, die in dieser Bewegung eine führende Rolle spielen, sind sich der Tatsache bewusst, dass das militärische Kräfteverhältnis immer noch zugunsten des US-Imperialismus und seiner NATO-Kriegsmaschine ausfällt. Daher vermeiden sie es absichtlich, in die imperialistische Falle zu tappen und sie in eine militärische Konfrontation hineinzuziehen. Diese bewusste Strategie wurde in den letzten Jahren insbesondere von Russland und dem Iran im Nahen Osten verfolgt.
2. Die Vereinigten Staaten und Israel starteten diese Offensive zu einem Zeitpunkt, als Syrien am schwächsten war, Russland in der Ukraine in einen Krieg gegen die NATO verwickelt war und der Iran nach seinen letzten Präsidentschaftswahlen mit zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu kämpfen hatte. Die Erwartung, dass das mit der Ukraine beschäftigte Russland und der innenpolitisch unvorbereitete Iran einen neuen Krieg gegen die USA und Israel in Syrien beginnen würden, wäre völlig unrealistisch und unvernünftig.
3. Ein Eingreifen in Syrien hätte den Einsatz von Bodentruppen dieser beiden Länder auf syrischem Gebiet erfordert. Abgesehen von den logistischen Herausforderungen einer solchen Operation auf kurze Sicht hätte dies andere regionale Mächte in den Konflikt hineingezogen und ihn zu einem umfassenden regionalen Krieg eskalieren lassen können, den sowohl der Iran und Russland als auch die globale Bewegung bewusst vermeiden wollten. Eine solche Aktion wäre auch eine Abkehr von dem strategischen Grundsatz der Achse des Widerstands, einen anhaltenden, langfristigen Zermürbungskrieg zu führen, gewesen.
4. Trotz schwerer militärischer Verluste bewahrte dieser bewusste und kalkulierte Rückzug die Möglichkeit, den Kampf an politischen, sozialen und sogar diplomatischen Fronten außerhalb der militärischen Konfrontation fortzusetzen. Er schafft Möglichkeiten, den militärisch verlorenen Boden mit anderen Mitteln zurückzuerobern. Es besteht kein Zweifel daran, dass die konfessionellen und ethnischen Gräben zwischen den verschiedenen terroristischen Besatzerfraktionen sowie die Interessenkonflikte zwischen der Türkei, Israel und den Vereinigten Staaten bald an die Oberfläche treten und den Zusammenhalt dieses so genannten militärischen Sieges untergraben werden. Außerdem ist es unvermeidlich, dass die Widerstandskräfte des Volkes in Syrien zunehmen werden. Dieser kalkulierte Rückzug erhöht auch die Chancen, die russische Militärbasis in Syrien zu erhalten, die ein strategischer Trumpf im Kampf gegen die NATO ist – ein wichtiger russischer militärischer Vorposten im Herzen des Mittelmeers, der den Interessen der globalen Widerstandsbewegung dient.
Die imperialistische Hegemonie geht zurück, und eine neue Ordnung entsteht. Der globale Kampf, mit dem wir heute konfrontiert sind, mag gelegentlich zu vorübergehenden Rückzügen oder sogar Niederlagen an bestimmten Fronten führen, aber der Fortschritt dieser globalen Bewegung ist nicht aufzuhalten. Wir dürfen nicht vergessen, dass nach Jahren der militärischen Besetzung Afghanistans und des Iraks durch die USA und die NATO keines der beiden Länder mehr unter der Kontrolle der USA oder des Westens steht. Das Schicksal Syriens wird in dieser Hinsicht nicht anders sein.
Jüngste regionale Entwicklungen und die neuen Herausforderungen für den Iran
Die jüngsten Ereignisse in Syrien und der Sturz von Bashar al-Assad haben die regionalen und internationalen Gleichgewichte erheblich verändert, mit tiefgreifenden Auswirkungen auf Iran und die Achse des Widerstands. Mit dem Verlust eines seiner wichtigsten Verbündeten in der Region steht der Iran vor erheblichen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung seiner Position und seiner Sicherheit im Nahen Osten. Einerseits stellt der Sturz Assads eine ernsthafte Bedrohung für die Achse des Widerstands und die Verringerung des iranischen Einflusses in Syrien und in der gesamten Region dar. Andererseits versucht der Westen, angeführt von den Vereinigten Staaten, den neu gewonnenen militärischen Vorteil in Syrien und der Region zu nutzen, um den Druck auf den Iran zu erhöhen und ihn aus einer Position der Schwäche heraus zu Verhandlungen und zur vollständigen Unterwerfung unter die Forderungen der USA und Israels zu drängen.
Innenpolitisch könnten der Sturz Assads und die anschließenden Veränderungen in der Achse des Widerstands den prowestlichen Kräften die Möglichkeit geben, größeren Druck auf die Führung auszuüben, damit diese mit dem Westen verhandelt und Kompromisse eingeht. Diese Herausforderungen könnten zu ernsthaften politischen Konfrontationen auf der Ebene der Innen- und Außenpolitik führen und damit die nationale Sicherheit des Landes ernsthaft gefährden. Unterdessen bereitet der Feind bereits seine nächsten Schritte gegen den Iran vor. Diskussionen über die Bombardierung der iranischen Atomanlagen werden laut. Israelische Sicherheitsbeamte sprechen sich in ihren staatlichen Medien offen für eine Politik aus, die darauf abzielt, den Iran zu zersplittern und das Land in ethnisch getrennte Regionen zu unterteilen. Es ist auch die Rede davon, soziale Unruhen wie die „Frauen, Leben, Freiheit“-Aufstände wieder aufflammen zu lassen. Die potenzielle Ausnutzung der Achillesferse des Irans, vor der wir wiederholt gewarnt hatten – die bestehenden internen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verwerfungen – ist nun zu einer dringenden und greifbaren Realität geworden.
Der Feind plant aktiv von innen und außen, um dem Iran einen letzten Schlag zu versetzen. Die Zeit drängt, und der Moment für entschlossenes Handeln ist gekommen. Um eine solche Katastrophe abzuwenden, braucht das Land dringend revolutionäre Entschlossenheit und Einheit in seiner Führung, nationale Solidarität zur Verteidigung des Vaterlandes und eine Massenmobilisierung aller revolutionären Kräfte in der gesamten Gesellschaft.
Was die Notwendigkeit von Entschlossenheit und Geschlossenheit innerhalb der Führung des Landes betrifft, so besteht der erste wesentliche Schritt darin, jegliche Neigung zur Kapitulation vor dem Imperialismus und dem kollektiven Westen unter dem Vorwand des jüngsten militärischen Rückschlags aufzugeben. Diejenigen, die ihre immer wiederkehrenden Rufe nach „Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten“ in ein forderndes Geschrei verwandelt haben – selbst wenn sie in ihrer Analyse aufrichtig sind -, lassen diesen entscheidenden Punkt außer Acht, dass Verhandlungen zwischen einer siegreichen Armee und einer militärisch unterlegenen Partei zu nichts anderem als zur totalen Kapitulation führen können. Welche Motivation hätte ein siegreicher Gegner, sich auf Verhandlungen einzulassen, und welche Forderungen würde er stellen, außer auf der vollständigen Kapitulation des Irans und der Einstellung seines Widerstands zu bestehen? Ein solches Vorgehen wäre nicht nur ein Verrat an den Völkern der Region, sondern auch ein Aufgeben der globalen Widerstandsfront gegen den Imperialismus – und letztlich ein Ende der iranischen Revolution von 1979.
Im direkten Gegensatz dazu sind wir der festen Überzeugung, dass es an der Zeit ist, alle Illusionen über die Absichten und Ziele des Imperialismus aufzugeben und sich entschieden gegen ihn zu stellen. Anstatt unsere Hoffnungen an die „wohlwollenden Absichten“ der imperialistischen Mächte und ihrer westlichen und regionalen Verbündeten zu knüpfen, muss der Iran ein für alle Mal seine verbleibende „Nabelschnur“ mit diesen Kräften durchtrennen, die in den letzten vier Jahrzehnten für unser zahlloses Unheil in unserem Land verantwortlich waren und die nun Syrien zerstören. Der Iran muss die pro-östliche Politik der Regierung des verstorbenen Präsidenten Raisi entschlossen wieder aufnehmen und sogar noch intensivieren. Der Iran muss seine strategischen Beziehungen zu China und Russland ausbauen und seine Position in diesem globalen Kampf unmissverständlich bekräftigen. Der dringendste Schritt zu diesem Zeitpunkt ist die Stärkung der Verteidigungskapazitäten des Landes, insbesondere durch den Abschluss des noch ausstehenden gegenseitigen Verteidigungspakts mit Russland. Ebenso sollte die Umsetzung der bereits unterzeichneten Wirtschaftsabkommen mit China unverzüglich wieder aufgenommen werden, und die Beziehungen des Irans zu China müssen auf die Ebene eines gegenseitigen Verteidigungspakts gehoben werden. Die pro-östliche Politik des Iran muss zu einer festen Strategie der „Allianz mit dem Osten und dem globalen Süden“ ausgebaut werden und eine aktivere und operativere Form annehmen. Gleichzeitig muss jeder Sabotage oder Behinderung dieses Weges – sei es durch Einzelpersonen oder Institutionen des Staates – entschieden entgegengetreten werden. Jedes Zögern in dieser Angelegenheit wird unweigerlich zur endgültigen Niederlage führen.
Aber keiner dieser Schritte wird erfolgreich sein ohne eine nationale Einheit zur Verteidigung des Landes und der Revolution. Die historischen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Risse, die in den letzten vier Jahrzehnten entstanden sind, sowie die Präsenz feindlicher Infiltratoren in der Gesellschaft und sogar in den staatlichen Institutionen können vom Feind leicht ausgenutzt werden, um die nationale Sicherheit und den Zerfall des Iran zu stören. Wir haben wiederholt betont, dass militärische Abschreckung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist. Der Iran benötigt – wenn nicht mehr, so doch mindestens genauso sehr wie die militärische Abschreckung – eine interne Abschreckung durch das Volk. Diese Art der Abschreckung kann nicht durch Gewalt oder das Unterdrücken der Stimmen von Demonstranten und der Opposition gewährleistet werden. Sie erfordert die dringende Beseitigung der bestehenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Spaltungen. Die verhängten Sanktionen und die neoliberale Wirtschaftspolitik haben der Arbeiterklasse und anderen werktätigen Massen des Landes das Rückgrat gebrochen und die iranische Wirtschaft lahmgelegt. Die iranischen Frauen stehen unter doppeltem Druck. Nationale, ethnische und religiöse Minderheiten im Iran fühlen sich vergessen. Die derzeitige kritische Lage erfordert rasche und praktische Schritte, um diese Probleme anzugehen. Unter diesen gefährlichen Kriegsbedingungen ist dies die einzige Möglichkeit, die Bevölkerung abzuschrecken und die nationale Sicherheit des Landes zu gewährleisten. Dies ist eine große Aufgabe, die ein entschlossenes, klassenbasiertes Vorgehen der Führung der Islamischen Republik Iran erfordert. Die vierzigjährige Verzögerung in diesem Bereich hat uns dahin gebracht, wo wir heute sind. Das einzige Ergebnis einer weiteren Verzögerung wird der vollständige Zusammenbruch und die Teilung des Landes sein. Die bittere Erfahrung des Scheiterns in Syrien liegt vor unseren Augen. Wir müssen daraus die notwendigen Lehren ziehen. Wir müssen Gruppen- und Fraktionsstreitigkeiten beiseite lassen und in dieser kritischen Situation auf der Grundlage der nationalen Interessen Irans handeln.
Gleichzeitig ist die Verteidigung des Vaterlandes und der Revolution ohne die organisierte Präsenz der revolutionären Massen vor Ort nicht möglich, was in der gegenwärtigen kritischen Situation zu einer dringenden Notwendigkeit geworden ist. Mehr als vier Jahrzehnte, in denen die Organisation der Massen in politischen Parteien, Gewerkschaften und Bürgervereinigungen verhindert wurde, haben die soziale Basis der Staatsmacht geschwächt. Eine unorganisierte und formlose Masse, wie revolutionär sie auch sein mag, wird nicht in der Lage sein, das Land und die Revolution zu verteidigen. Dies ist ein Mangel, der behoben werden muss, um die laufenden internen Verschwörungen des Feindes in der gegenwärtigen Situation zu überwinden. Es müssen sofortige Maßnahmen ergriffen werden, um Massenorganisationen des Volkes zur Verteidigung der Revolution und des Widerstands zu schaffen und zu stärken. Wie Herr Khamenei in seiner Rede am 8. Dezember 2024 bei einem Treffen mit den Basij-Kräften betonte:
„Um das Land, die Nation und die Revolution unverwundbar zu machen, bedarf es dringend einer breiten, massiven Volkskraft, denn die Revolution gehört dem Volk, das Land gehört dem Volk. Mehr als jeder andere Faktor oder jedes andere Element ist es das Volk, das sein Land und seine Revolution verteidigen kann, vorausgesetzt, ihm wird ein Weg eröffnet … für die umfassende materielle und geistige Verteidigung unserer nationalen Identität, unserer nationalen Sicherheit und der Interessen des Volkes….“
Ja, letztendlich ist es das Volk, das unsere „nationale Identität“ und „nationale Sicherheit“ verteidigen kann, sowohl international als auch im Inland. Das Volk muss wieder organisiert und mobilisiert werden, um die Revolution und die Widerstandsstrategie der Islamischen Republik Iran zu verteidigen. Nur wenn wir uns auf sie stützen, können wir verhindern, dass die Politiker, die an der Macht sind, die Strategie des Widerstands aufgeben und sich den imperialistischen und zionistischen Plänen für die Region und den Iran unterwerfen.
Weltweit ist ein erbitterter Kampf um die Schaffung einer ausgewogeneren Ordnung im Gange, und unser Iran spielt in diesem Kampf eine Schlüsselrolle. Viele Völker der Region und der Welt setzen ihre Hoffnungen auf den anhaltenden Widerstand des Iran. Lassen wir nicht zu, dass eine vorübergehende militärische Niederlage uns daran hindert, die Rolle zu spielen, die dieser historische Prozess unserem Heimatland zugedacht hat. Sieg und Niederlage sind Teil des Kampfes, aber jeder Verlust und die daraus gezogenen Lehren sind ein Schritt zum Sieg. Der einzige Faktor für eine endgültige Niederlage ist der Verlust der revolutionären Hoffnung, und das ist genau das, was die Feinde des Volkes versuchen, den Massen aufzuerlegen.
Der endgültige Sieg gehört den Massen, die Widerstand leisten.
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(1) Roberta Rivolta, „Wirtschaftskrieg gegen Syrien“, Website „Sanctions Kill“, 5. Dezember 2024.
Aufzeichnung der Diskussionsveranstaltung vom 10. Januar 2025 in Berlin.
Die Gleichzeitigkeit der Krise des „Westens“ einerseits und seiner zunehmend autoritär-militärischen Formierung andererseits bestimmen die Zeit. Die Einheit der Gegenkräfte zum Imperialismus scheint jedoch bisweilen fragil.
Mit drei Genossen, die sich intensiv mit den Regionen beschäftigt haben, richten wir den Blick auf Brennpunkte des internationalen Klassenkampfes, nach Russland, Palästina und den Sahel. Wir wollen die Widersprüche und Probleme im Lager des Imperialismus und der Gegenkräfte identifizieren, um auf dieser Grundlage ein realistisches Gesamtbild der Lage zu entwickeln. Welche Potentiale gibt es zur Formierung einer einheitlichen antiimperialistischen Front? Wie können wir uns aus Deutschland mit den Kämpfen verbinden?
Am Samstagabend wurde ein Mordanschlag auf den Generalsekretär der Kommunistische Partei Kenia, Marxistisch (CPM-K), Booker Omole, verübt. Schwer bewaffnete Männer stürmten sein Haus. Es kam zu einem Schusswechsel, aber glücklicherweise konnte der Angriff abgewehrt werden. Ein Angriff dieser Schwere ist Ausdruck der immensen Kämpfe, die derzeit in Kenia stattfinden, und der zentralen Rolle, die Booker dabei spielt.
An diesem Wochenende haben wir, wie so viele Kommunisten, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gedacht. Sie wurden kurz nach der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) 1918 und nach Jahren des Kampfes in der Arbeiterbewegung ermordet. Wir wissen, wie wertvoll es ist, Genossen an der Spitze unserer Bewegung zu haben, die in der Lage sind, sie zu führen und zu orientieren und ihr Wissen weiterzugeben. Wir brauchen nicht nur viel mehr dieser Genossen, sondern wir müssen auch die schützen, die wir haben!
Auf den Angriff folgte die gewaltsame Entführung des nationalen Vorsitzenden, Genosse Mwaivu Kaluka, zusammen mit zwei weiteren Genossen. Sie wurden nach öffentlichem Druck und juristischer Intervention freigelassen, dennoch ist dies eindeutig in die verzweifelte Kampagne des Kenya-Kwanza-Regimes einzuordnen, die die CPM-K einzuschüchtern soll. In der Vergangenheit wurden viele Genossen der CPM-K verhaftet oder sogar getötet. In den letzten Monaten wurde insbesondere die Parteiführung ins Visier genommen. Mwaivu wurde kurz nach seiner Ernennung zum nationalen Parteivorsitzenden verhaftet und Booker wurde an der Teilnahme an internationalen Treffen gehindert, um nur einige Beispiele zu nennen.
Die CPMK spielt eine führende Rolle im Kampf gegen das neokoloniale Regime von William Ruto. Während des Gen-Z-Aufstands in diesem Sommer wurden Massen mobilisiert – die CPM-K arbeitete unermüdlich daran, den Aufstand in eine organisierte Form zu bringen. Die CPM-K leitet das Nationale Koordinierungskomitee der Volksversammlung (NCCPA), eine breit angelegte Koalition demokratischer Kräfte, die sich für die Wiedererlangung der Souveränität Kenias einsetzen. Das NCCPA konsolidiert die Errungenschaften des Gen-Z-Aufstands und überführt sie zu politischen Instrumenten.
CPM-K hat 2025 zum entscheidenden Jahr für den Kampf erklärt. Wir müssen diejenigen unterstützen, die den Kampf gegen unseren gemeinsamen Feind – den westlichen Imperialismus – anführen. Wir müssen von den Erfahrungen der CPM-K lernen, über ihre Kämpfe aufklären und uns mit ihnen vernetzen! Wir senden Booker und der CPM-K unsere volle Solidarität!
Hände weg von der CPM-K!
Die kenianischen Behörden müssen eine gründliche und transparente Untersuchung des Mordversuchs durchführen!
Nieder mit dem Neokolonialismus!
Lang lebe die CPM-K!
Hands off CPM-K!
On Saturday night, there was an attempted assassination on the life of Communist Party Marxist Kenya (CPM-K) General Secretary Booker Omole. Heavily armed men stormed his house. There was an exchange of gunfire, but fortunately the attack was repelled. An attack of this severity is an expression of the immense struggles currently taking place in Kenya and the central role Booker plays in them.
This weekend, like so many communists, we commemorated Rosa Luxemburg and Karl Liebknecht. They were assassinated shortly after they founded the Communist Party of Germany (KPD) 1918 and after years of struggle in the labour movement. We know how valuable it is to have comrades at the head of our movement who are able to lead and orientate it and pass on their knowledge. Not only do we need many more of these comrades, but we also need to protect the ones we have!
The attack was followed by the violent abduction of the National Chairperson, Comrade Mwaivu Kaluka, alongside two other comrades. They where released after public outcry and legal intervention, nevertheless this clearly adds to the Kenya Kwanza regime’s desperate campaign to intimidate CPM-K. In the past many comrades of CPM-K were arrested or even killed. In the last months especially the leadership was targeted. Mwaivu was arrested just shortly after becoming the national chairperson of the Party and Booker was prevented from attending international meetings just to name a few examples.
CPM-K plays a leading role in the struggles against William Rutos neo-colonial Regime. Masses were mobilised during the Gen Z uprising this summer – CPM-K was working tirelessly to develop the uprising in an organised form. CPM-K leads the National Coordination Committee of People’s Assembly (NCCPA), a broad-based coalition of democratic forces dedicated to reclaiming Kenya’s sovereignty. The NCCPA is consolidating achievements from the Gen Z uprising and transforming these into tangible political instruments.
CPM-K has declared 2025 a decisive year for the struggle. We must support them, who lead the struggle against our common enemy – western imperialism. We shall learn from CPMKs efforts, educate about their struggles and connect with them! We send our full solidarity to Booker and the CPM-K!
Hands off CPM-K!
The Kenyan authorities must conduct a thorough and transparent investigation in the assassination attempt!
„Wer die Geschichte seines Volkes nicht kennt, lebt wie ein Mensch, der sein Gedächtnis verloren hat“ sagt eine alte Volksweisheit. Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist nicht nur ein zentraler Teil der Geschichte des Volkes, sondern auch der Schlüssel zur wissenschaftlichen Weltanschauung des Proletariats. Die Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus kann man nur verstehen, wenn man weiß, warum und unter welchen Bedingungen sie entstanden ist.
Genau darum geht es beim Studiengang zur Geschichte des Kommunismus. In einem dreijährigen Lern- und Diskussionsprozess soll aus den historischen Erfahrungen, Niederlagen, Fehlern und Erfolgen der Bewegung gelernt werden. Die Kämpfe sollen in den historischen Kontext eingeordnet werden, um sie besser zu verstehen. Welche Widersprüche in der Welt haben zu welchen Widersprüchen in der Bewegung geführt und welche Schlüsse sind daraus für heute abzuleiten? Das ist die Fragestellung, die sich durch die Beschäftigung mit der Geschichte zieht.
Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass wir die Geschichte des Kommunismus, unsere eigene Geschichte, sehr genau kennen. Uns fehlt jedoch oft ein tieferer Einblick. Debatten bleiben oberflächlich, obwohl sie nicht selten mit harten Bandagen geführt werden. Damit sind wir in einer Weise vom Erfahrungsschatz unserer Bewegung getrennt, die es uns erschwert, auf die heutigen politischen Verhältnisse zu reagieren und kommunistische Politik zu entwickeln. Mit dem Studiengang wollen wir uns ein Fundament erarbeiten, das dieser Aufgabe gerecht werden kann.
Dabei orientieren wir uns stark an den acht Bänden zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Sie stellen eine selbstkritische Aufarbeitung unserer Geschichte bis in die 1970er Jahre dar, in denen viel Wissen über die Kämpfe, Siege und Niederlagen aufgehoben ist. Allerdings ist die Arbeiterbewegung eine internationale Bewegung, deshalb wird der Studiengang auch internationale Werke und Texte beinhalten, darunter Teile der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und andere Quellen zur Geschichte des Kampfes weiterer Länder.
Der Studiengang zur Geschichte des Kommunismus beginnt im Februar 2025 und wird drei Jahre in Anspruch nehmen. Das Programm ist in monatliche Module eingeteilt. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Studiengang keine Schulung ist. Wir selbst sind unsere Lehrer. Die Lernziele sind Gegenstand der Diskussion. Er ist ein organisations- und parteiunabhängiges Projekt, das entlang einer monatlichen Vorlesung sowie Lern- und Lesegruppen einen Rahmen für die Selbstbildung und die kollektive Diskussion schaffen soll.
Der Studiengang ist offen für jeden, der das ernsthafte Interesse hat, sich mit der Geschichte des Kommunismus im Sinne einer konstruktiven und ergebnisoffenen Diskussion zu befassen. Besucht die Website des Studiengangs, um mehr darüber zu erfahren und euch dafür anzumelden:
Der folgende Text ist ein Bericht von einer Konferenz im Senegal im November 2024. Aber er ist mehr als ein Bericht: Er gibt einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen in Westafrika – über den antiimperialistischen Kampf, über den progressiven Charakter der dortigen Militärregierungen und ihre Unterstützung aus dem Volk. Es ist ein Einblick in die weitreichenden Maßnahmen zur Bekämpfung der neokolonialen Abhängigkeit, zum Aufbau einer eigenständigen Wirtschaft, zur Mobilisierung der Bevölkerung und auch in die damit verbundenen Schwierigkeiten.
Der Bericht gibt Einblicke in revolutionäre und fortschrittliche Organisationen, Parteien und Bündnisse der Region und ihr hartnäckiges Ringen um die Erringung der politischen Souveränität und Volksmacht. Der Bericht zeigt zugleich auf, dass in Afrika eine für Kommunisten hochinteressante und wichtige ideologische Entwicklung, verbunden mit den praktischen Kämpfen, stattfindet. Diese knüpft an den Panafrikanismus und an die großen Revolutionäre Afrikas, wie Sankara und Cabral an, sowie an die afrikanischen Klassiker des Marxismus, wie Nkrumah und Rodney.
Er ist ein Aufruf an die Kommunisten in den imperialistischen Zentren, den Kontakt zu ihren afrikanischen Genossen zu suchen, die Verbindung herzustellen, ihren Kampf zu unterstützen. Das heißt sowohl, über ihre wichtigen Erfahrungen im Befreiungskampf aufzuklären, als auch die hiesigen Regierungen und ihre neokolonialen Verbrechen zu bekämpfen.
Inhaltsverzeichnis
Deutsche Verbrechen und fortwährende Einmischung – warum antiimperialistische Kämpfe in Afrika für uns relevant sind
Was ist los im Sahel? Zwischen Coups, Terrorbekämpfung und ökonomischem Fortschritt
Neokoloniale Kontinuitäten
Kampf um Souveränität und nationale Entwicklung
Der Wahlsieg der PASTEF im Senegal – zwischen Skepsis und Fortschritt
Schlaglichter aus dem Sahel – wichtige Impulse für unsere Debatten
Das Verhältnis der Militärregierungen der AES-Staaten zur Volksbewegung
Fragilität der AES-Staaten
Parlamentarisch-demokratische Machtergreifung im Senegal “vs.” militärische in AES-Staaten
Verstaatlichung statt Ausverkauf in Niger
Panafrikanismus – Vision für die Emanzipation des afrikanischen Kontinents
Wie weiter? Ein Kontinent im Aufbruch
Anhang
Niamey-Erklärung
Im Oktober 2024 hatten wir die Gelegenheit an der 7. Antiimperialistischen Konferenz der WAP (World Antiimperialist Platform) in Zusammenarbeit mit der DUP (Dynamique Unitaire Panafricaine) und dem CNP (Conseil Nationale de Préparation – lokales, senegalesisches Vorbereitungskomitée) in Dakar, Senegal teilzunehmen.
„Colloquium zur Frage der Souveränität im Museum der schwarzen Zivilisation, gebaut von China. Ganz links Aboubakar Alassane, 4. v. Links Adama Coulibaly“
Im Fokus der Konferenz standen aktuelle revolutionäre Bewegungen auf dem Kontinent, besonders die Entwicklungen im Sahel. Der Austausch über aktuelle revolutionäre Bewegungen wurde mit der Erinnerung an die revolutionären Vorkämpfer der Unabhängigkeit verbunden. Ein zentraler Anlass war der 100. Geburtstag des antikolonialen sozialistischen Revolutionärs Amilcar Cabral. Er, genauso wie Thomas Sankara oder Kwame Nkrumah, sind heute wichtige Bezugspunkte für die aktuellen Kämpfe gegen den Raub afrikanischer Ressourcen, ausländische Militärbasen und andere neokoloniale Unterdrückungsmechanismen.
Auf der Konferenz wurde auch deutlich, dass das antiimperialistische Bewusstsein klar über den Kontinent hinausgeht. Die Solidarität mit Palästina wurde selbstverständlich mitgedacht. So wurde auf der Konferenz über die 40 Jahre anhaltende Inhaftierung von Georges Abdallah gesprochen und dagegen protestiert.
Die Konferenz entstand in Zusammenarbeit verschiedener Organisationen: Die DUP ist eine panafrikanische Dachorganisation mit antiimperialistischer Ausrichtung, die Organisationen in der Diaspora und auf dem Kontinent zusammenbringen will.
Die WAP ist eine antiimperialistische Plattform, die 2022 mit der Pariser Deklaration gegründet wurde: Ziel der Plattform ist es, antiimperialistische Kräfte weltweit zusammenzubringen und in Anbetracht der zunehmenden kriegerischen Konfrontationen zentrale Punkte in der antiimperialistischen Bewegung zu setzen, bezüglich dem Ukraine-Krieg, China, der Demokratischen Volksrepublik Korea und damit auch der Frage, wer der Hauptfeind der Antiimperialisten ist.
Die Konferenz gab viel Raum für Berichte afrikanischer Delegierter zur Situation in ihren Ländern und es wurden Diskussionen zum revolutionären Potential im Sahel nach den Militärcoups, Panafrikanismus heute, sowie der Einschätzung ob aktuell schon ein 3. Weltkrieg läuft und Faschisierungstendenzen diskutiert.
Der vorliegende Text soll beleuchten, was es mit dem zentralen Konferenzanlass – eben jener revolutionären Bewegung im Sahel – auf sich hat und aufzeigen, dass die deutsche Kommunistische Bewegung eine Lücke aufweist, wenn es um antiimperialistische Bewegungen in Afrika geht.
Deutsche Verbrechen und fortwährende Einmischung – warum antiimperialistische Kämpfe in Afrika für uns relevant sind
Vor 140 Jahren, von November 1884 bis Februar 1885, fand die Berliner Konferenz statt, auf der die damaligen imperialistischen Großmächte ihre kolonialen Besitzansprüche in Afrika manifestierten. Wie der Name verrät, fand die Konferenz in Berlin statt und wurde von Bismarck ausgerichtet. Auch wenn Deutschland erst spät in das koloniale Wettrennen einstieg und früher seine Kolonien verlor als andere Kolonialmächte, waren einige afrikanische Länder einst deutsche Kolonien: Togo, “Deutsch-Ostafrika” (Tansania, Ruanda, Burundi), “Deutsch-Südwestafrika” (Namibia) und Kamerun. Das Deutsche Reich war verantwortlich für einige der schlimmsten Massaker an der einheimischen Bevölkerung, wie der Genozid an den Herero und Nama oder auch die Strategie der „verbrannten Erde“ im Maji-Maji-Krieg (im heutigen Tansania) belegt.
Mit der Berliner Konferenz wurde versucht, Konflikte zwischen den Kolonialmächten um die Kolonien zu befrieden. Im Ergebnis wurden weitere Teile Afrikas von den Kolonialmächten besetzt. Auch die Terrorherrschaft des belgischen König Leopolds im Kongo ist auf diese Konferenz zurückzuführen.[1] Trotz dieser Beteiligung unserer Bourgeoisie in der Unterwerfung und Zerstörung Afrikas, damals und heute, ist der afrikanische Befreiungskampf in der deutschen Linken kaum noch präsent. In kommunistischen Kreisen findet man wenig Hintergrundtexte oder Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen auf dem Kontinent und der deutschen Rolle darin. Seien es Militäreinsätze, wie in Mali, Abkommen zur “Flüchtlingsabwehr” mit Kräften wie den RSF (Rapid Support Forces in Sudan, die massive Massaker verübten und verüben)[2], oder auch die Unterstützung der Abspaltung des Südsudans und der damit forcierten Balkanisierung des Kontinents[3] – all das und noch viel mehr hat der deutsche Imperialismus mitzuverantworten.
Positiv hervorzuheben ist an dieser Stelle die Internationale Forschungsstelle DDR, die einige Hintergrundtexte zur Entwicklung Afrikas lieferte, die auch zum heutigen Verständnis hilfreich sind. Auch in der Jungen Welt, Unsere Zeit oder bei German Foreign Policy findet man Artikel, die aktuelle Berichte liefern. Oft muss man jedoch außerhalb des deutschen kommunistischen Spektrums nach tiefergreifenden Analysen suchen. Auch praktisch gibt es wenig Solidarität. Als wir letztes Jahr gegen die drohenden ausländischen Interventionen in Niger Protest organisierten, mussten wir feststellen, dass wir damit in Deutschland ziemlich alleine dastanden.[4]
Dann gibt es solche Kräfte, wie die “KP” oder auch Marx21, die sich zwar äußern, aber ihr äquidistantes Bild einer “reinen Revolution” auch auf den Sahel anwenden, die Militärputsche lediglich zu Handlangern des “russischen Imperialismus” verklären und damit als keine Alternative zur westlichen Intervention darstellen. Sie rufen explizit dazu auf, die neuen Regierungen nicht zu unterstützen.[5] Sie klammern damit die Unterstützung dieser Putsche durch die Bevölkerung, sowie konkrete Veränderungen durch die neuen Regierungen vor Ort einfach aus.
Wieso solche Positionen problematisch sind und nicht den Positionen der fortschrittlichen Kräfte vor Ort entsprechen, soll anhand der Diskussionen auf der Konferenz dargestellt werden. Dass es in der kommunistischen Bewegung eigentlich eine lang zurückgehende Debatte um den Kampf gegen Neokolonialismus gab, in die wir auch die aktuellen Entwicklungen im Sahel einordnen, die jedoch heute teils vergessen scheint und wieder aufgenommen werden muss, argumentierte ein Genosse an anderer Stelle.[6]
Dieser Text ersetzt keine ausführliche Analyse der neokolonialen Verhältnisse und auch nicht der konkreten Bedingungen vor Ort, aber er stellt den Versuch an, Diskussionen um die aktuelle Lage im Sahel aufzuzeigen und Fakten und Eindrücke von Kräften vor Ort zur Verfügung zu stellen. Der Text soll dazu anregen, den Blick auf die antiimperialistische Bewegung im Sahel zu richten und die dort geführten Diskussionen aufzunehmen.
Was ist los im Sahel? Zwischen Coups, Terrorbekämpfung und ökonomischem Fortschritt
Neokoloniale Kontinuitäten
Um besser einordnen zu können, wie neokoloniale Mechanismen in der Region heute greifen, sollen zumindest einige zentrale Merkmale des Sahels kurz genannt werden. Sahel bezeichnet die Region südlich der Sahara, der durch eine relative Trockenheit, enorme Hitze sowie überwiegend flache Landschaften und eine dünne Besiedelung gekennzeichnet ist. Er erstreckt sich von Gebieten in Mauretanien und Senegal im Westen bis in den Osten des Kontinents nach Sudan und Eritrea und umfasst daneben noch Gebiete im Tschad, Nigeria, Niger, Burkina Faso und Mali.
Blicken wir nun auf die dem Sahel zugewiesene ökonomische Stellung im Weltsystem: Nach der kolonialen Aufteilung des Kontinents auf der Berliner Konferenz, ging es darum, die „Überseegebiete“ nach den Interessen der Kolonialmächte aufzuteilen. Insbesondere Länder ohne Zugang zum Meer, zu denen Burkina Faso, Niger und Mali gehören, wurden in ihrer Entwicklung auf Primärproduktion wie Landwirtschaft und Bergbau beschränkt, während der industrielle Sektor kaum entwickelt wurde. Bis heute zeichnet sich die Region durch einen enorm hohen Anteil der Subsistenzwirtschaft und der in großen Teilen privaten Organisierung der Reproduktion aus, was sich signifikant auf die Lebensbedingungen von Frauen auswirkt. Hinzu kommt, dass der Anteil von informeller Arbeit in den Ländern des Sahels dominiert. Auch im Senegal, Mali, Niger oder Burkina Faso lagen die Zahlen bislang bei über 90% ungesicherter Arbeitsverhältnisse (insbesondere auf dem Land und auch anteilig höher unter Frauen).[7]
Alle vier Länder eint mehr oder weniger ausgeprägt ihr Ressourcenreichtum bei gleichzeitiger krasser Armut der Bevölkerung und fehlender Industrialisierung, sowie Plünderung durch ausländische Unternehmen. Zum Zeitpunkt des Putsches in Niger befand sich das Land auf dem drittletzten Platz des Human Development Index, war das 9. ärmste Land der Welt und fast die Hälfte der Bevölkerung lebte in extremer Armut. Während Niger zu den größten Uranexporteuren der Welt gehört, wovon besonders Frankreich profitiert, hatten 2023 nur 14,3% der nigrischen Bevölkerung Zugang zu Elektrizität. Unter dem Deckmantel eines „Staatskonzerns“ – an dem die nigrische Regierung eigentlich nur einen geringen Anteil hatte, plünderte der französische Staatskonzern, der Mehrheitsanteile hielt, die nigrischen Uranvorkommen aus.
In Mali, Niger und Burkina Faso ist über die wirtschaftliche Ausbeutung hinaus der Kampf gegen Terrorismus das akuteste Problem. Zentral für das Erstarken islamistischer terroristischer Gruppen war die Zerschlagung Libyens durch den Imperialismus Ende 2011. Dadurch wurden nicht nur massenhaft Waffen in den Sahel gespült, sondern auch vorherige Kämpfer der libyschen Armee. Viele von ihnen gehörten den malischen Tuareg an, die schon lange Sezessionsbestrebungen verfolgten und nach der Zerschlagung Libyens einen neuen bewaffneten Anlauf nahmen. Ihnen schlossen sich nicht nur zuvor von den USA hochausgebildete Kämpfer an, sondern auch islamistische Gruppierungen, die von Qatar und Saudi Arabien unterstützt wurden.[8] Seitdem fand eine massive Militarisierung der Region statt, die keinesfalls zu einer Befriedung führte. Die terroristischen Gruppierungen breiteten sich auf die umliegenden Länder aus und immer mehr westliche Staaten errichteten Militärbasen, besonders in Mali und Niger. So hatte die USA beispielsweise drei Drohnenbasen in Niger, u.a. die 110 Millionen Dollar schwere Basis 201, die lange eine zentrale Funktion für Africom-Einsätze hatte. Auch die deutsche Bundeswehr mischte in beiden Ländern mit und versuchte über den Einsatz in Mali eine stärkere Stellung in Westafrika zu erlangen. In Senegal war Terrorismus bislang kein zentrales Problem, was westliche Staaten aber nicht von der Betreibung ausländischer Militärbasen im Land abhielt.
Ökonomisch ist ein zentrales Instrument der neokolonialen Abhängigkeit in insgesamt 14 Ländern West- und Zentralafrikas der CFA-Franc (FCFA), der die nationalen Ökonomien an einer eigenständigen Entwicklung hindert. Die fortgesetzte Kolonialwährung ist nicht nur an den Euro (ehemals Franc) gebunden, 50 Prozent ihrer Währungsreserven lagern in Frankreich, das Geld wird dort gedruckt und in den Zentralbanken gibt es einen französischen Posten mit Vetomacht. Auch Schuldenfallen beim IWF und der Weltbank, die Strukturanpassungsprogramme in Form von Privatisierungen und Ähnlichem fordern, sind ein wesentlicher Faktor hinsichtlich der Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse.
Progressive Präsidenten und Anführer von Unabhängigkeitsbewegungen wurden in der Vergangenheit reihenweise ermordet, wenn sie versuchten, sich den herrschenden Bedingungen zu widersetzen. Oder ihre Versuche, der Abhängigkeit zu entkommen, wurden sabotiert, wie etwa in Modibo Keitas Mali, als eine unabhängige Währung eingeführt wurde und Frankreich schlichtweg Falschgeld auf den Markt brachte, um diese zu sabotieren.
Afrika, als ressourcenreichster Kontinent, soll abhängig gehalten werden, damit Afrikas Ressourcen weiterhin den Reichtum des Westens finanzieren können.
Diese Aufzählung vermittelt nur einen oberflächlichen Eindruck in einen Bruchteil der Abhängigkeitsmechanismen, die von den Imperialisten genutzt werden, um ihren Einfluss zu wahren. Eine tiefere Untersuchung der jeweiligen Entwicklung der Länder wäre notwendig. Dennoch reicht schon dieser kurze Überblick aus, um zu verdeutlichen, weshalb die Bevölkerung des Sahels einen klaren Bruch mit dem Imperialismus, vor allem dem Französischen, fordert.
Kampf um Souveränität und nationale Entwicklung
Statue der afrikanischen Renaissance in Dakar, Senegal.
In den vergangenen Jahren konnten wir in der Region eine Reihe dieser Brüche beobachten. 2021 in Mali, 2022 in Burkina Faso und 2023 in Niger. In allen drei Ländern führten die von Assimi Goita, Ibrahim Traoré und Abdourahamane Tchiani angeführten Militärcoups zu schwerwiegenden Veränderungen. Allem voran der Rausschmiss des französischen Militärs sorgte für große Begeisterung und Zustimmung in der Bevölkerung, insbesondere der Jugend. Damit sagten sich die drei Länder zunächst auf der militärischen Ebene von jahrzehntelangem Aufoktroyieren ausländischer Interessen, dem Verhindern der Entwicklung eigenständiger Armeen und der Politik neokolonialer Handlanger wie Ibrahim Boubacar Keita, Blaise Compaoré und Mohamed Bazoum los. Deren Agenden zeichneten sich durch den bereitwilligen Ausverkauf des nationalen Reichtums, verbunden mit persönlicher Bereicherung und dem allgemeinen Befolgen von Wünschen und Zielen der Imperialisten aus.
Damit scheint erst einmal Schluss zu sein. Kein Wunder also, dass insbesondere das Ausscheren Nigers im Sommer letzten Jahres fast zu einer v.a. von Frankreich unterstützten Militärintervention der ECOWAS führte. Unmittelbar nach dem Putsch im Juli 2023 hatte die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft bereits umfassende Sanktionen gegen das Binnenland verhängt und seine Suspendierung aus dem Staatenbündnis beschlossen. In Niger führten Grenzschließungen, das Einfrieren nationaler staatlicher Vermögenswerte, Flugverbote oder das Aussetzen von Handelstransaktionen und Finanzhilfen zu einer krassen Verschlechterung der Lage der Bevölkerung. Der verfolgte Zweck, nämlich die Bevölkerung gegen die Putschregierung Tchianis aufzuhetzen, wurde aber weit verfehlt. Tausende Menschen solidarisierten sich mit der Conseil National pour la Sauvegarde de la Patrie (Nationalrat für die Rettung des Vaterlandes, CNSP), die am 03. August 2023 als Militärregierung ausgerufen wurde und protestierten lautstark gegen die illegalen Sanktionen und die voranschreitenden Kriegsvorbereitungen. Schließlich scheiterte die gewaltvolle Intervention der ECOWAS, welche durchaus einen Flächenbrand in der Region hätte auslösen können, an den anhaltenden Protesten und auch der Verweigerung einiger Mitglieds- und anderer afrikanischer Staaten. Selbst der nigerianische Senat hatte gegen die Pläne seines Präsidenten Bola Tinubu gestimmt, in Niger militärisch zu intervenieren.
Die imperialistische Aggression trug eher zur Stärkung und Formierung des Bündnisses zwischen Mali, Burkina Faso und Niger bei. Am 16. September 2023 gründeten sie die “Alliance des Etats du Sahel” (AES) zunächst als Verteidigungsbündnis. Damals schon auf Grundlage einer panafrikanischen ideologischen Basis, welche die Probleme der kolonialen Grenzziehung erkennt und der Balkanisierung des Kontinents, wie sie schon Kwame Nkrumah angeprangerte, den Kampf ansagt. In diesem Zusammenhang wurden u.a. ein AES-übergreifender Pass geschaffen[9]und eine Vereinbarung über die Abschaffung von Roaminggebühren zwischen den Staaten getroffen[10]. Außerdem wird aktuell bspw. der Handel von Grundgütern im Sinne gegenseitiger Solidarität zwischen den AES-Staaten gestärkt, während von Niger ein Exportstopp auf Hülsenfrüchte und Getreide außerhalb der AES verhängt wurde[11]. Heute – über ein Jahr nach Gründung der Allianz – ist aus dem zunächst losen Zusammenschluss eine Konföderation entstanden, die eine eng abgestimmte Agenda gegen Unterentwicklung und Überausbeutung sowie für Souveränität und Selbstbestimmung verfolgt.
Diese Kursänderung führte u.a. dazu, dass das US-Militär seine geopolitisch bedeutsame Drohnenbasis in Agadez (Niger) aufgeben musste, nachdem Neuverhandlungen über die Bedingungen der Militärposten längst Offenkundiges eindrücklich bewiesen: Völlige Missachtung der Souveränität afrikanischer Staaten. Diese passt eben nicht in das aufgebaute neokoloniale Konstrukt von Fremdherrschaft mit anderen Mitteln. Auch die deutschen Soldaten in Mali und Niger wurden aus diesem Grund des Landes verwiesen. In diesem Falle hatte u.a. auch die vorherige malische Nichtgenehmigung von Aufklärungsflügen deutscher Heron-Drohnen für große Empörung bei Pistorius und Co. gesorgt. Dass einer der Hauptgründe dafür die ausbleibende Zurverfügungstellung der Drohnenaufnahmen für malische Streitkräfte war, wurde dahingegen weitgehend verschwiegen.
Viel mehr Aufmerksamkeit widmeten die westlichen Regierungsvertreter und Medienhäuser einer ganz anderen Gefahr, vor der sie die afrikanischen Völker selbstlos bewahren wollen. Denn nicht neokoloniale Ausbeutung und Vorherrschaft seien das Problem, sondern Russland und seine Wagner-Söldner, die den Kontinent langsam aber sicher unterwandern würden. Sicherlich sollte der Einsatz einer Söldnertruppe wie Wagner nicht unkritisch gesehen werden, aber erst einmal muss anerkannt werden, dass die malische Regierung diese um Unterstützung gebeten hat, um eine Alternative zu europäischen Soldaten zu schaffen, die offensichtlich der Terrorabwehr nicht zuträglich waren trotz langjähriger Stationierung. Auch Unterstützung für den Bau einer eigenen Goldraffinerie in Mali kommt von Russland. De facto bietet die Diversifizierung internationaler Beziehungen also vorerst neue Möglichkeiten für die nationale Entwicklung.
Der Kampf um nationale Entwicklung kann praktisch anhand der Maßnahmen und Projekte, die von den AES-Staaten durchgeführt und angegangen werden, nachvollzogen werden. Die Liste dieser Maßnahmen ist lang. Was die forcierte Umwälzung der neokolonialen Wirtschaftsverhältnisse anbelangt, ist die Verstaatlichung in allen drei Ländern ein wichtiges Instrument auf dem Weg zum Wandel. So wurden bspw. in Mali bereits mehrere Goldminen oder auch Teile der Baumwollindustrie verstaatlicht, welche sich vorher in ausländischem Besitz befanden.[12] Im August 2023 erließ die Goita-Regierung zudem ein neues Bergbaugesetz, das die staatliche Beteiligung in neuen Projekten langfristig auf 20% und 35% erhöht. Dass es Mali ernst ist, bekommen Bergbaugiganten wie Barrick Gold oder Resolute Mining deutlich zu spüren. Erst Anfang Dezember 2024 wurde ein Haftbefehl gegen den Vorstandschef des kanadischen Unternehmens Barrick Gold, Mark Bristow, erlassen und auch der lokale Direktor der sehr großen Goldmine Loulo-Gounkoto soll festgenommen werden. Der CEO von Resolute Mining wurde bereits im November inhaftiert, mittlerweile aber gegen Geldzahlungen wieder freigelassen.[13] Hintergrund sind die Bemühungen der malischen Regierung, unbezahlte Steuern und Dividenden in Höhe von 300-600 Milliarden CFA-Franc (circa 0,5-1 Mio Euro) einzutreiben[14].
Auch in Burkina Faso wurden Goldminen verstaatlicht[15] und der eigenständige Bau von Goldraffinerien in Angriff genommen. Die erste soll Ende dieses Jahres noch in Betrieb gehen. Außerdem stehen mittlerweile der Zuckersektor[16] und auch die Commercial Bank of Burkina Faso[17] unter staatlicher Kontrolle. Ein wichtiger Schritt in Richtung weniger Abhängigkeit von Lebensmittelimporten ist außerdem die Inbetriebnahme einer Tomatenverarbeitungsanlage in Bobo-Dioulasso, welche u.a. die Ernährungssicherheit der burkinischen Bevölkerung steigern soll.[18] Das aktuell ambitionierteste Vorhaben Traorés ist aber vermutlich die Konstruktion eines Atomkraftwerkes in Zusammenarbeit mit dem russischen Atomkonzern ROSATOM. Dies wurde bereits im Oktober 2023 vertraglich besiegelt und soll einen zentralen Beitrag zur Erlangung von Energieunabhängigkeit leisten.[19] Es wäre das erste Atomkraftwerk in Westafrika. Bisher gibt es auf dem gesamten Kontinent lediglich in Südafrika ein Atomkraftwerk, in Ägypten befindet sich aktuell eins im Bau.
Diese ökonomischen Veränderungen werden begleitet von einer Reihe von symbolischen, aber nicht weniger zu begrüßenden Maßnahmen. Die ideologische Besinnung auf die panafrikanischen Gründerväter schlägt sich u.a. in der Umbenennung von Straßen und Plätzen nieder, die zuvor an die Schrecken der Kolonialzeit erinnerten. So wurde z.B. in Niamey, Niger die “Avenue Charles de Gaulle” in “Avenue Djibo Bakary” umbenannt[20].
Der Wahlsieg der PASTEF im Senegal – zwischen Skepsis und Fortschritt
Eine panafrikanische Agenda hat sich auch die im März 2024 an die Macht gekommene PASTEF-Regierung im Senegal auf die Fahnen geschrieben. Anders als die Regierungen der AES-Staaten wurde die Partei von Diomaye Faye und Ousmane Sonko, die kurz vor den Wahlen im Zuge der Repression gegen die Opposition beide noch im Gefängnis saßen, per Wahlen ins Amt gebracht. Die Patriotes africains du Sénégal pour le travail, l’éthique et la fraternité / Afrikanische Patrioten von Senegal für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit (PASTEF: linke Partei mit panafrikanischer und souveräner Agenda, welche 2014 insbesondere von Teilen des Kleinbürgertums aus Verwaltung, Selbstständigkeit oder Bildungssektor gegründet wurde) konnte im April diesen Jahres knapp 60% der senegalesischen Stimmen auf sich vereinigen[21]. Zuvor hatte das neokoloniale Regime von Macky Sall alles darangesetzt, nicht abtreten zu müssen und mittels eines konstitutionellen Coups versucht, die Wahlen auf Dezember 2024 zu verschieben. Doch auf den Straßen Dakars hatte sich schon seit geraumer Zeit eine Protestbewegung formiert, die dem Ausverkauf des Landes und der Korruption der regierenden Eliten den Kampf ansagte. Insbesondere die von einer Schmierkampagne begleitete Inhaftierung des populären Oppositionsführers Ousmane Sonko im Juni 2023 brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Für viele Senegalesen stand fest, dass die Opposition mit unlauteren Mitteln an einem potentiellen Sieg gehindert werden sollte – schließlich hatte Sonko bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2019 aus dem Stand 16% holen können. Auf die Proteste reagierte die Regierung gewaltvoll. Nach der Verschiebung der Wahlen im Februar eskalierte die Situation vollends. Bis zum Sieg der PASTEF wurden unter der Regie Macky Salls dutzende Protestierende ermordet[22]. Viele, die zur Opposition gezählt wurden, wurden inhaftiert und teils im Gefängnis gefoltert.
Kein Wunder also, dass die Hoffnung in die PASTEF und ihre propagierte panafrikanische Wende im Frühling groß war und auch weiterhin ist. Fayes angekündigtes Programm: Kampf gegen Korruption, nationale Versöhnung, mehr Arbeitsplätze, Neuaushandlung von Verträgen mit ausländischen Konzernen, fairer Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und – das wohl bedeutendste Versprechen – den CFA-Franc zugunsten einer regionalen Währung abschaffen. In den vergangenen Monaten ging es über Symbolpolitik nicht weit hinaus. Begründet wurde das seitens PASTEF meist mit der Situation im Parlament, in dem bis November noch die Opposition die Mehrheit der Sitze innehatte und somit in der Lage war, politische Entscheidungsprozesse zu blockieren. Nach der Auflösung des Parlaments durch Faye im September und den Neuwahlen im November sieht die Situation nun aber anders aus. Die Partei verfügt jetzt über 130 der 165 Sitze. Nicht lange danach folgte die Aufforderung an Frankreich, seine Militärstützpunkte inklusive Soldaten von senegalesischem Territorium zu entfernen, so Faye: „Senegal ist ein unabhängiges Land; es ist ein souveränes Land, und die Souveränität akzeptiert nicht die Anwesenheit von Militärstützpunkten in einem souveränen Land“[23].
Inwiefern die senegalesische Regierung neokoloniale Einflussnahme wirklich konsequent bekämpfen und eine nationale Entwicklung fördern wird, wird zu einem wesentlichen Teil von der weiteren Organisation und dem Einfluss der senegalesischen antiimperialistischen Bewegung, als auch von den Entwicklungen in den umliegenden Ländern abhängen.
Schlaglichter aus dem Sahel – wichtige Impulse für unsere Debatten
Die oben geschilderten Entwicklungen im Sahel sind natürlich nicht ohne Widersprüche. Darüber wurde auf der Konferenz in Dakar lebendig diskutiert. Wir hatten einige Gelegenheiten auch abseits des offiziellen Programms, mit Genossen aus der Region in Austausch zu treten. Diskussionen und die daraus gewonnenen Eindrücke spiegeln natürlich nur Ausschnitte wider und ersetzen keine tiefergehenden Analysen. Wir stützen die Ausführungen dabei vor allem auf aufgezeichnete Interviews, die wir mit folgenden Genossen führten: Adama Coulibaly, Vorsitzender der Alternative Patriotique et Panafricaine Burkindi / Patriotische und Panafrikanische Alternative (APP-Burkindi, linke panafrikanische Partei, 2018 gegründet) aus Burkina Faso und Generalsekretär der DUP, Alassane Aboubakar von der Organisation Révolutionnaire pour une Démocratie Nouvelle-Tarmamouwa / Revolutionäre Organisation für eine Neue Demokratie-Stern (ORDN, politische Partei, die in den 90ern aus der marxistisch geprägten Studierendenbewegung heraus gegründet wurde) aus Niger und von der West African Peoples Organization (WAPO, eine Dachorganisation progressiver westafrikanischer politischer Parteien, Organisationen und Gewerkschaftsverbände, die für die vollständige Befreiung und Vereinigung Afrikas kämpfen) sowie Aziz Ndao von der Front pour une révolution anti-imperialiste populaire et panafricaine – France Dégage / Front für eine antiimperialistische Volks- und panafrikanische Revolution – Frankreich verschwinde (FRAPP) aus Senegal.
Zentrum der FRAPP. Links Amilcar Cabral. Die Karte zeigt die Basisgruppen der FRAPP
Das Verhältnis der Militärregierungen der AES-Staaten zur Volksbewegung
Wenn wir hier in der bürgerlichen Presse über die Situation in den Sahelländern überhaupt irgendetwas lesen, wird sehr oft über Repressionen oder autoritäres Machtgehabe der AES-Regierungen berichtet. Schenkten wir dieser Berichterstattung unkritisch Glauben, müsste sich tatsächlich schnell der Eindruck verfestigen, dass Traoré, Goita und Tchiani völlig losgelöst vom Willen der Volksmassen handelten. Dass die Narrative unserer herrschenden Klasse mit besonderer Vorsicht zu genießen sind, ist klar. Sie lassen sich mit Blick auf die Entwicklungen jedoch auch schnell entkräften. Nicht nur wurden alle drei Putsche von Massenprotesten begleitet, auch darüber hinaus gab es vor allem in der nachfolgenden Entwicklung Indizien für die Verbundenheit der Regierungen zu den Volksbewegungen.
Der Genosse Coulibaly berichtete bspw., dass seine Organisation nach dem von Ibrahim Traoré angeführten Coup viele Vorschläge und Forderungen aufstellte, die von der Militärregierung teils auch angenommen bzw. umgesetzt wurden. Dazu gehörten zu allererst der Rausschmiss des französischen Militärs, aber auch Ideen bzgl. der Massenmobilisierung gegen die Aktivitäten terroristischer Gruppierungen sowie hinsichtlich konkreter ökonomischer Maßnahmen. Was die Massenmobilisierung angeht, wurden u.a. die sog. “Wayinyans” ins Leben gerufen. Sie sind Gruppen von Zivilisten, die nachts an strategisch wichtigen Orten wie Kreisverkehren, Regierungsgebäuden oder nationalen Fernseh- und Radiosendern Wache halten und die Bevölkerung im Falle ungewöhnlicher Vorkommnisse mobilisieren. Damit stellen sie sich auch gegen die gehäuften Putschversuche gegen Traoré. Außerdem unterstützen die Wayinyans auch finanziell den Patriotischen Unterstützungsfond (FSP, sammelt Geldmittel im Kampf gegen den Terrorismus) und die Freiwilligen zur Verteidigung des Vaterlandes (VDP)[24].
Über die Berücksichtigung konkreter Vorschläge hinaus, habe die APP-Burkindi auch einen Delegierten in der Übergangsregierung sitzen, was aber nach Aussage des Genossen noch bei weitem nicht ausreiche, denn „auch wenn diese Erfahrungen sehr, sehr gut sind, müssen sie in eine revolutionärere Richtung gelenkt werden. Die revolutionäre Bewegung muss also Hand in Hand mit den Militärs arbeiten, um sie zu beeinflussen, da sie keine ideologische Führung haben.”
Alassane formuliert es wie folgt: „Jetzt müssen das Volk und das Militär zusammenarbeiten, damit es funktioniert und von Dauer ist, und es gibt jetzt genug Erfahrung und genug revolutionäres Bewusstsein. Es gibt also einen starken Geist im Volk. Die Menschen sind jetzt gebildet, sie haben eine intellektuelle Klasse und die Jugend ist überqualifiziert. Man kann sie also nicht von ihrem Ziel ablenken.”
Schauen wir nach Mali, ist der Prozess rund um die Gestaltung und Verabschiedung einer neuen Verfassung in engem Austausch mit den Volksmassen besonders positiv hervorzuheben. Bereits Ende 2021 wurden große Anstrengungen unternommen, „Nationale Versammlungen zur Neugründung” des Staates und der Gesellschaft im ganzen Land zu organisieren. In einem nächsten Schritt wurden die lokal geführten Diskussionen auf nationaler Ebene zusammengetragen und ausgewertet[25].
Im Sommer 2022 starteten dann intensive Diskussionen zwischen Vertretern der Militärregierung mit religiösen Führern, Politikern und Delegierten zivilgesellschaftlicher Organisationen auf Grundlage der Erkenntnisse aus den Nationalen Versammlungen[26]. Circa ein Jahr später wurde die Verfassung bei Wahlen mit 97% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von knapp 40% angenommen[27]. Diese bestärkt den Charakter Malis – wie schon in der Verfassung von 1992 festgeschrieben – als eine „unabhängige, souveräne, einheitliche, unteilbare, demokratische, säkulare und soziale Republik“ (Art. 30). Neu ist insbesondere die Einführung einer zweiten Kammer (Artikel 95), wodurch laut Soziologieprofessor Bréma Ely Dicko die Rechte lokaler Amtsträger und traditioneller Autoritäten gestärkt würden[28]. Jetzt besteht die gesetzgebende Gewalt in Form des Parlaments nämlich nicht mehr nur aus der Nationalversammlung – wie zuvor – sondern wird um den Senat ergänzt, der die Gebietskörperschaften repräsentiert und somit ein wichtiges Instrument für die Dezentralisierung darstellt. Diese war damals ein wichtiger Bestandteil der Friedensverhandlungen mit den Tuareg im Norden, die Algerien vermittelte und unterstreicht, dass die Perspektive keine möglichst autoritäre Präsidentschaft ist, sondern eher eine breitere Aufstellung demokratischer Wege. Außerdem trägt die Präambel viel klarer als die vorherige Verfassung dem Kampf gegen Korruption und den Bestrebungen hin zu nationaler Versöhnung Rechnung. Ebenso wie der Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität Malis, welche als zentrale Pfeiler im Schutz der nationalen natürlichen Ressourcen und dem damit verbundenen Ziel der Förderung des sozialen Wohlergehens nachzukommen, begriffen werden.
Als Hinweis für die Verbundenheit der Regierungen zu den Volksbewegungen kann auch der Hintergrund ihrer Anführer betrachtet werden, der in Burkina Faso und Niger interessant ist. Alassane berichtete, dass es in Niger schon 2007 Proteste gegen die ausländische Vorherrschaft im Uranabbau gegeben hatte und insgesamt eine reiche Geschichte gewerkschaftlicher und marxistischer Orientierung. Auch Tchiani war Teil einer dieser Organisiationen – der Union des Scolaires Nigériens (USN), eine Schüler- und Studierendenorganisation, die stark von Mitgliedern der zu ihrer Gründungszeit verboten kommunistischen Partei Nigers, der SAWABA, beeinflusst war. Auch wenn Tchiani sich später auf das Militär konzentrierte, scheint der Bezug zu revolutionären Bewegungen doch noch vorhanden zu sein. Dafür spricht einerseits, dass Tchiani eine Konferenz revolutionärer Organisationen in Niger im November explizit unterstützte, sowie dass seine Regierung das Wiederaufleben der Erinnerung an ehemalige revolutionäre Führer explizit unterstützt. Djibo Bakary, nach dem eine Straße in Niamey benannt wurde, war Anführer der SAWABA Partei und konsequenter Antikolonialist.
Auch in Burkina gibt es Verbindungen zu Organisationen der Volksbewegung sowie der revolutionären Geschichte des Landes. Thomas Sankara wurde 2023 zum Nationalhelden erklärt und ihm ein Feiertag gewidmet. Präsident Traoré war in der marxistischen Studierendenorganisierung Association Nationale des Etudiants Burkinabé (ANEB), weitere hochrangige Mitglieder der Regierung haben ebenso einen sozialistischen Organisationshintergrund, der kürzlich aus der Regierung entlassene Joachim Kyélem de Tambèla war sogar aktiver Sankarist. Inwiefern seine Entlassung im Dezember auf Widersprüche hindeutet, lässt sich aktuell noch nicht ausreichend einschätzen.
Hommage an Thomas Sankara
Fragilität der AES-Staaten
Der Genosse der APP-Burkindi betonte immer wieder den Fortschritt, den er den aktuellen Entwicklungen zuschreibt, mahnte aber mindestens genauso oft die von ihm ausgemachte Fragilität des Projekts AES an. Seiner Ansicht nach müsse das Militär vor diesem Hintergrund die Forderungen der Jugend noch mehr mit einbeziehen, da ja eigentlich sie die Avantgarde der Bewegung seien und auch sie es gewesen wären, die der militärischen Führung ihre ideologische Basis verliehen hätten. Der Genosse berichtete trotz Erfolgen in der Kooperation auch von einer Atmosphäre der Einschüchterung unter Teilen der progressiven Kräfte in Burkina Faso, wurde hierzu allerdings nicht konkreter. Hierzulande ist diesbezüglich vor allem das Beispiel der malischen linksliberalen Oppositionspartei Solidarité Africaine pour la Démocratie et l’Independence / Afrikanische Solidarität für Demokratie und Unabhängigkeit (SADI) bekannt. Diese arbeitet eng mit der deutschen Rosa-Luxemburg Stiftung zusammen, was zumindest zu kritischer Betrachtung dieser Partei führen sollte und uns im Gespräch mit Genossen vor Ort auch so gespiegelt wurde. Vor allem aber muss eine möglicherweise übertriebene Einschränkung von Opposition im Kontext der externen Bedrohungslage durch imperialistische Staaten begriffen werden, das betonte auch der Genosse. So wurde im August diesen Jahres bereits der fünfte Putschversuch gegen Traoré aufgedeckt und vereitelt.
Diesbezüglich betonte er auch, dass die französische Armee zwar endgültig raus aus den AES-Staaten sei, aber sich in angrenzende Länder wie Benin und Cote d’Ivoire zurückgezogen habe und von dort aus terroristische Aktivitäten unterstütze[29]. Trotz Negierungen der beninischen Regierung gibt es tatsächlich Berichte und Informationen über eine französische Militärbasis in Benin, die sich unmittelbar an der Grenze zu Niger befinden soll[30]. In nächster Nähe verläuft zudem die ökonomisch-strategisch wichtige nigrische Öl-Pipeline, welche in den vergangenen Monaten mehrmals Ziel terroristischer Attacken war, sowie im Mittelpunkt diplomatischer Streitigkeiten zwischen Niger und Benin stand.
Parlamentarisch-demokratische Machtergreifung im Senegal “vs.” militärische in AES-Staaten
Viele Genossen der DUP betonten während der Konferenz sehr positiv den durch Wahlen zustande gekommenen Machtwechsel in Senegal, welcher den Kompradoren und repressiv regierenden Macky Sall absetzte und die langjährige Oppositionspartei PASTEF von Diomaye Faye und Ousmane Sonko, ins Regierungsamt brachte. Gleichzeitig wurden aber auch die unterschiedlichen Wege im Kampf um Souveränität als wertvolle Lernmomente verstanden.
Eine große Rolle in den Protesten gegen das neokoloniale Regime von Sall spielte u.a. die Bewegung FRAPP-France Dégage, die die Konferenz in Dakar mit organisierte. Viele ihrer Mitglieder und generell Protestierende wurden festgenommen, gefoltert oder umgebracht – während westliche Medien bis zuletzt Senegal als Leuchtturm der Demokratie in Westafrika inszenierten. Genossen der FRAPP, betonten, dass berücksichtigt werden muss, dass Senegal in einem anderen Zustand als die AES-Staaten ist. Dabei bezogen sie sich vor allem auf die Bedrohung durch Terrorismus, die im Senegal weniger stark sei.
Ein genauerer Blick auf die Strategie der FRAPP bzgl. ihres Umgangs mit der jetzt amtierenden PASTEF-Regierung scheint lohnend. Aktuell nehmen sie eine kritisch-solidarische Haltung zu Fayes Partei ein, indem sie bisher getroffene oder eben nicht getroffene Regierungsmaßnahmen in einem vierteljährlichen Bericht begleitet, kritisch auswertet und je nachdem auch konkrete Vorschläge unterbreitet oder Forderungen an die Regierung stellt.
Was bspw. die ökonomische Souveränität Senegals betrifft, hatte die PASTEF-Regierung ein Projekt zur systemischen Umstrukturierung angekündigt, um Staatsschulden abzubauen und die Währungssouveränität wiederzuerlangen. So weit, so schwammig. Die FRAPP forderte daraufhin die Regierung in ihrem Bericht auf, Kredite von internationalen Finanzinstitutionen zu vermeiden, “um das Diktat der internationalen Institutionen durch den Schuldenmechanismus zu” beenden. “Diese Institutionen (IWF, WB, AFD [Agence Française de Développement – Anmerkung KO] usw.) nutzen konzessionäre oder halb konzessionäre Kredite, um multinationalen Unternehmen den roten Teppich auszurollen (gebundene Schulden) oder um die öffentliche Politik von Ländern in Schwierigkeiten zu bringen (Anpassungsprogramme). Dieses traditionelle Muster hält unsere strukturelle Abhängigkeit aufrecht, weshalb ein Paradigmenwechsel und die Mobilisierung inländischer Ressourcen notwendig sind.” Weiter konstatiert die FRAPP: “Nach 79 Jahren französischer Bevormundung im Zusammenhang mit dem CFA-Franc müssen wir unsere Währungssouveränität wiedererlangen, um eine Währungspolitik im Dienste des Wirtschaftswachstums und der Vollbeschäftigung zu konzipieren und umzusetzen.”[31]Dafür verlangt die Bewegung den zwingenden Ausschluss Frankreichs aus der Verwaltungsebene der Währung.
Die FRAPP kritisiert noch viele andere Zustände, wie die weiterhin existierenden ausländischen Militärbasen im Land oder auch unzureichende staatliche Preisregulierungen und Subventionen im Sinne einer weitreichenden Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards. Wie bereits oben beschrieben, gibt es nun auch Mehrheiten im Parlament, mit denen die Regierung weiterer Schritte umsetzen kann und sich nicht mehr auf dieses Problem als Begründung für ihre Zurückhaltung beziehen kann.
Verstaatlichung statt Ausverkauf in Niger
Was konkrete Maßnahmen anbelangt, schafft die Tchiani-Regierung in Niger seit ihrer Machtübernahme deutliche Fakten. So berichtete uns der Genosse der ORDN von der erfolgreichen Verstaatlichung des Wassersektors Anfang des Jahres. Nach über 22 Jahren Fremdbestimmung in Sachen Wasserversorgung, dankte die französische Veolia ab und die neu gegründete Nigérienne des Eaux nahm das Zepter in die Hand. Aktuell hat nur ca. die Hälfte der nigrischen Bevölkerung Zugang zu Trinkwasser. Das soll sich nun ändern. Bis 2030 plant die nigrische Regierung eine flächendeckende Versorgung sicherzustellen[32].
Darüber hinaus werden auch weiterhin Pläne zur Verstaatlichung wichtiger Bergbauminen und Ölfelder umgesetzt. Ende Oktober musste u.a. der französische Energiekonzern Orano seine Uranproduktion komplett einstellen. Nachdem Niger Orano im Juni bereits die Lizenz für den Betrieb der Imouraren-Mine entzogen hatte, war Somair die letzte noch in Produktion befindliche Mine unter französischer Kontrolle gewesen[33]. Orano begründete seinen Rückzug u.a. mit den geschlossenen Grenzen zu Benin, die seit geraumer Zeit den Rohstoff-Transport zum Hafen in Cotonou unterbinden, und den damit verbundenen finanziellen Einbußen. Die geschlossenen Grenzen waren zunächst Resultat der Sanktionen, welche die ECOWAS gegen Niger nach dem Militärputsch im Sommer 2023 verhängte. Diese wurden zwar im Frühjahr dieses Jahres aufgehoben, doch behielt sich Niger aufgrund von Sicherheitsbedenken und der vermuteten Beherbergung französischer Militärs und deren Unterstützung für terroristische Gruppen vor, die Grenzen weiterhin geschlossen zu halten. Daraufhin unterband Benin die Verschiffung des Öls der wichtigen nigrisch-chinesischen Öl-Pipeline[34]. Diese läuft mittlerweile wieder, doch die Grenzen bleiben geschlossen.
Bei der weiteren Beschäftigung mit den Entwicklungen im Sahel wird es sehr wichtig sein, die Rolle von prowestlichen Regierungen wie Talon in Benin oder auch Ouattara in Cote d’Ivoire genau zu verfolgen. Mit großer Zuversicht sollte allerdings die Ankündigung Nigers vom September aufgenommen werden, die Timersoi National Uranium Company (TNUC) aus der Taufe zu heben. Dieses neue staatliche Unternehmen soll in Zukunft die Urangewinnung organisieren[35].
Es stellt sich natürlich die Frage, inwiefern ein in Unterentwicklung gehaltenes Land wie Niger in der Lage ist, den Abbau und die Verarbeitung seiner Ressourcen selbst zu organisieren. Dazu präsentierte der Genosse der ORDN einen pragmatischen Ansatz, der sicherlich große Risiken birgt, aber aktuell den Stand des Möglichen darzustellen scheint: Niger lege vor allem neue Bedingungen fest – wer sie dann letztendlich erfülle, sei nachrangig. So erzählte er sehr optimistisch von einem Abkommen mit dem kanadischen Kernenergie- und Rüstungsunternehmen Global Atomic, welches laut seinen Einschätzungen im Gegensatz zu den französischen Verträgen eine “Win-Win-Situation” impliziere. Der Konzern erhielt von Niger die nötigen Befugnisse für die Umsetzung des wichtigen Dasa-Uranprojekts, das die Förderung von Erz ermöglichen soll, um anschließend v.a. Nordamerika und einen europäischen Stromversorger zu bedienen[36]. Doch gleichzeitig verpflichte sich der Konzern dazu, nigrische Fachkräfte auszubilden bzw. zu qualifizieren und so mittelfristig einen Technologie-Transfer zu ermöglichen. In 5 bis 10 Jahren solle Niger dann in der Lage sein, die Rohstoffgewinnung eigenständig sowie national zu organisieren.
Panafrikanismus – Vision für die Emanzipation des afrikanischen Kontinents
Die Diskussionen auf dem Kongress drehten sich vorrangig um die Frage, was progressiver Panafrikanismus heute bedeutet. Besonders hervorzuheben sind die Redebeiträge von Booker Omole (Kommunistische Partei Kenia – CPMK) und Philippe Toyo Noudjenoumè (Vorsitzender der West African Peoples Organisation – WAPO und der Kommunistischen Partei Benin). Noudjenoumè stellte außerdem die Entwicklung des Panafrikanismus dar, der als Begriff in der Vorbereitung des 1. Panafrikanischen Kongresses in London 1900 aufkam. Fortan wurde die Bewegung stark von Afrikanern aus der Diaspora geprägt wie etwa W.E.B. du Bois und Marcus Garvey, welche beide zu den Gründervätern der Bewegung gezählt werden.[37] In den folgenden Jahrzehnten entwickelten sich jedoch auch immer mehr Bewegungen auf dem afrikanischen Kontinent, die sich auf den Panafrikanismus als Befreiungsideologie bezogen.
Ohne hier zu detailliert auf die Entstehung und Entwicklung der panafrikanischen Bewegung eingehen zu können, die definitiv eine gesonderte Untersuchung wert wäre, sollen zumindest ihre grundlegenden Ziele kurz dargelegt werden. Der Panafrikanismus stützte sich auf die Idee Afrika wieder zu vereinen, als Gegenbewegung zur Zerstückelung durch Sklaverei und Kolonialismus, wodurch Afrikaner in der ganzen Welt verteilt wurden. Die Forderungen konzentrierten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hauptsächlich auf den Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung und fanden primär in der Diaspora statt. Da dies auch Jahrhunderte lang die ideologische Rechtfertigung für die Unterdrückung war, wurde ein rassisches Konstrukt wesentlicher Teil der Befreiungsideologie, im Sinne der Schwarzen Selbstermächtigung gegen die weißen Herrscher. Das hatte natürlich viele fortschrittliche Aspekte in der Entwicklung der antikolonialen Bewegung und besitzt sie auch teilweise weiterhin, jedoch mit Grenzen und Fallstricken. Es muss kritisiert werden, wenn Hautfarbe statt Klasse zum Kriterium des Kampfes wird, wie die Redner der Konferenz darstellen. Es ging auch damals mit vielen Diskussionen einher. Beispielsweise dazu, wie konsequent mit dem Kolonialismus gebrochen werden sollte, wo die Kämpfe primär stattfinden sollten und auch zum Verhältnis zur kommunistischen Bewegung. Mit dem zunehmenden Verlangen nach der Abschüttelung des Kolonialismus, kann der 5. Kongress 1945 in Manchester unter Führung von George Padmore und Kwame Nkrumah als Wendepunkt gesehen werden, ab dem die panafrikanische Bewegung die nationale Befreiung auf dem afrikanischen Kontinent in den Fokus stellte. Noudjenoumèbeschreibt, wie Nkrumah, “eine neue, militantere und auf die Arbeiterklasse ausgerichtete Dimension” auf die panafrikanische Bewegung anwandte. Die Balance zwischen nationalen Zielen und den kontinentalen Missionen der Bewegung zu halten, die unterschiedlichen Kämpfe in der Diaspora um Rechte dort und in Afrika, begleitete die panafrikanischen Strategiedebatten in den folgenden Jahrzehnten und auch noch bis heute[38].
Noudjenoumè stellte in seinem Redebeitrag auf der Konferenz in Dakar folgende Definition eines progressiven Panafrikanismus dar: “den Panafrikanismus, für den wir kämpfen, als eine politische Bewegung und Ideologie, die die vollständige Unabhängigkeit, die integrale wirtschaftliche Entwicklung und die Vereinigung des afrikanischen Kontinents fördert und zu diesem Zweck die Praxis der Solidarität zwischen Afrikanern und Menschen afrikanischer Abstammung, wo immer auf der Welt sie sich befinden, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrer religiösen Zugehörigkeit oder ihrem physischen Erscheinungsbild, unterstützt.” Gleichzeitig machte er auch auf die Widersprüche aufmerksam, welche die panafrikanische Bewegung in sich trägt.
So unterscheidet er verschiedene Spielarten des Panafrikanismus:
großbürgerlicher Panafrikanismus: zielt auf die Vereinigung Afrikas durch afrikanische Kapitalisten ab
kemitischer Panafrikanismus: dieser Panafrikanismus schließe den arabisch-berberischen Teil der Afrikaner aus und beruht auf einer Vereinigung reduziert auf die Hautfarbe, er sei vor allem in intellektuellen Kreisen verbreitet
populistisch, kleinbürgerlicher Panafrikanismus: ziele v.a. auf afrikanische Diaspora ab und verkörpere einen “Panafrikanismus ohne jegliche Verankerung in der inneren Situation und mit ausländischem Konsum”
revolutionärer Panafrikanismus: lege den Fokus auf die revolutionäre Transformation in den Ländern
Auch Booker Omole von der Kommunistischen Partei Kenias betonte die Relevanz eines progressiven Panafrikanismus, der sich auf die Erkenntnisse des wissenschaftlichen Sozialismus stütze. Er warnte vor Konzepten wie der Negritudé, die die Klassen- und Ausbeutungsverhältnisse nicht in den Blick nehmen würden und stattdessen ein romantisiertes Bild der Vergangenheit entwerfen würden.
Der Blick auf die Spielarten bleibt schlaglichtartig, sollte jedoch an dieser Stelle nicht ausgespart werden, da die Diskussion um Panafrikanismus virulent in der afrikanischen Befreiungsbewegung ist und die Beschäftigung damit insofern notwendig. Nicht zuletzt die Gründung der Allianz der Sahelstaaten und der damit einhergehende Prozess über die kolonialen Grenzen hinweg an einer souveränen Entwicklungsperspektive zu arbeiten, zeigt die praktische Relevanz.
Wie weiter? Ein Kontinent im Aufbruch
Die Situation im Sahel ist geprägt von revolutionärem Elan und schnellen Dynamiken. Während wir diesen Text verfassten, fand in Niger vom 19.-21. November die “Konferenz in Solidarität mit den Völkern der Sahelzone” statt, die die WAPO und Pan Africanism Today (PAT) ausrichteten. An ihr nahmen Vertreter von Gewerkschaften, Bauernorganisationen, Kommunistischen Parteien und anderen fortschrittlichen Organisationen aus Afrika teil. Die Konferenz wurde von der Regierung Nigers ausdrücklich unterstützt.
Sie bestärkte die Stimmung revolutionären Elans, die wir auch in Senegal wahrnehmen konnten. Der afrikanische Kontinent ist in Bewegung. Der Aufschwung, der den Kontinent erfasst hat, findet nicht nur in Westafrika statt, sondern auch in Kenia, wo viele Genossen ihr Leben im Kampf gegen die neokoloniale Regierung verlieren, und weiteren Ländern.
Dabei sind die heutigen antiimperialistischen Kräfte keinesfalls naiv. Sie wissen um die Fragilität jeglicher antiimperialistischen Bewegung und setzen genau deshalb den Fokus auf die Verteidigung der AES-Staaten. Sie sind sich gleichfalls der Begrenztheit der AES-Staaten bewusst. Wir nahmen eine intensive Auseinandersetzung mit den historischen Erfahrungen der antiimperialistischen Kämpfe wahr, den Drang nach Bildung, sowie lebendigen Austausch über Strategie und Taktik.
Davon können wir lernen und uns inspirieren lassen. Gleichzeitig sollten wir unsere Verantwortung für den antiimperialistischen Kampf im imperialistischen Zentrum ernst nehmen.
Wir müssen die Rolle des deutschen und NATO-Imperialismus in Afrika besser verstehen und eine starke antiimperialistische Bewegung aufbauen, um ihn zu schwächen. Wir müssen die Kämpfe und Entwicklungen vor Ort besser verstehen, hier Bewusstsein über sie schaffen und über die verzerrten Narrative deutscher Medien diesbezüglich aufklären, die sich bis in linke Kreise erstrecken. Die progressiven Kräfte in der Region führen lebendige und richtungsweisende Debatten in der Region und sie formieren sich. Lasst es uns ihnen gleichtun und gemeinsam eine starke antiimperialistische Front aufbauen.
A BAS L’IMPERIALISME – DOWN WITH IMPERIALISM A BAS NEOCOLONIALISME – DOWN WITH NEOCOLONIALISM
A BAS LA FRANCEAFRIQUE – DOWN WITH FRANCEAFRIQUE
VIVE LE PEUPLE SAHELIENNE – LONG LIVE THE PEOPLE OF THE SAHEL
LA PATRIE OU LA MORT, NOUS VAINCRONS – HOMELAND OR DEATH, WE SHALL OVERCOME
Anhang
Niamey-Erklärung
21. November 2024
Solidarität mit den Völkern der Sahelzone: Für antiimperialistische Einheit, Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern
Teilnehmer aus verschiedenen Teilen der Welt – Amerika, Asien und Afrika – nahmen an der Konferenz in Solidarität mit den Völkern der Sahelzone teil. Diese Veranstaltung wurde von der West African Peoples‘ Organisation (WAPO) und dem Pan Africanism Today Sekretariat (PAT) organisiert. Sie fand vom 19. bis 21. November 2024 im Mahatma Gandhi International Conference Centre in Niamey unter dem Motto „Für antiimperialistische Einheit, Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern“ statt. Wir geben hiermit die folgende Erklärung ab:
I. Internationaler Kontext
Die Welt steht vor einer mehrdimensionalen Krise am Rande eines dritten Weltkriegs, der durch die aggressiven und offensiven Aktionen imperialistischer Mächte unter der Führung der Vereinigten Staaten und ihrer NATO-Verbündeten gekennzeichnet ist. Diese Mächte begehen Handlungen, die ihren Niedergang signalisieren – darunter die Anordnung von Massakern und Völkermorden in Gaza und im Libanon und die Entfachung von Kriegen von der Ukraine bis zur Westsahara und zum Sudan. Sie schüren zahlreiche provokative Aktionen in Südostasien, halten eine seit über sechs Jahrzehnten andauernde illegale Blockade gegen Kuba aufrecht und verhängen im Rahmen ihrer globalen Tyrannei Sanktionen gegen das venezolanische Volk.
Als Teilnehmer der Konferenz in Solidarität mit den Völkern der Sahelzone verurteilen wir diese Handlungen aufs Schärfste, die wir als Treibstoff für einen möglichen umfassenden dritten Weltkrieg betrachten. Wir machen die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten für diese Handlungen verantwortlich und fordern eine sofortige Einstellung der Gräueltaten in Gaza und im Libanon, ein Ende der Blockaden gegen Kuba und Venezuela und ein Ende der imperialistischen Provokationen weltweit für den Frieden der Menschheit.
II. Afrikanischer Kontext und besonderer Fokus auf die Sahelzone
1. Vor 140 Jahren, am 15. November 1884, kamen vierzehn europäische Kolonialmächte unter der Führung des deutschen Reichskanzlers Bismarck in Berlin zusammen, um den afrikanischen Kontinent zu ihrem Vorteil aufzuteilen. Nach Jahrhunderten der Ausbeutung von Millionen afrikanischer Arbeiter durch Sklaverei besetzten diese europäischen Nationen Afrika physisch, um seine reichen natürlichen Ressourcen auszubeuten.
2. Während dieser Aufteilung beanspruchten Frankreich und das Vereinigte Königreich die größten Teile Westafrikas. Frankreich kontrollierte schließlich große Teile der Sahelzone und übernahm die vermeintlich weniger fruchtbaren Wüstenregionen, während das Vereinigte Königreich die fruchtbareren und bevölkerungsreicheren Regionen Afrikas besetzte.
3. Obwohl heldenhafte Befreiungskämpfe geführt und bedeutende Erfolge erzielt wurden, führte die Unabhängigkeit in den 1960er Jahren nicht zu echter Souveränität, insbesondere nicht für die französischen Kolonien. Die Nationen der A.E.S. blieben als „französische Enklaven“ in Afrika gefesselt, wo alle Aspekte der Souveränität, von der Währung und Verteidigung bis hin zu den natürlichen Ressourcen, von Frankreich über Marionettenregierungen kontrolliert wurden, die durch eine ständige Militärpräsenz unter Druck gesetzt wurden. Die anhaltende Ausbeutung machte die sogenannten frankophonen afrikanischen Staaten zu den ärmsten der Welt, wobei Niger ein ergreifendes Beispiel ist.
4. Die jüngsten Staatsstreiche in Mali, Burkina Faso und Niger sind darauf zurückzuführen, dass es den Machthabern nicht gelungen ist, ihre Nationen vor der imperialen Aggression Frankreichs zu schützen, und dass sie terroristische Kräfte gefördert haben. Dazu gehört auch die Duldung und Komplizenschaft dieser ehemaligen Regierungen mit Terroristen bei den Massakern an der Bevölkerung. Diese Staatsstreiche spiegeln auch die weit verbreitete Unzufriedenheit und den Ruf nach grundlegenden Veränderungen in diesen Ländern wider.
III. Unterstützung für die entschlossenen Völker und Führer der Allianz der Sahelstaaten (AES)
1. Wir loben die Regierungen, die aus den jüngsten Staatsstreichen hervorgegangen sind, für die Verabschiedung patriotischer Maßnahmen zur Wiedererlangung der politischen und wirtschaftlichen Souveränität über ihre Gebiete und natürlichen Ressourcen. Zu diesen Maßnahmen gehören die Beendigung neokolonialer Abkommen, die Forderung nach Abzug französischer, amerikanischer und anderer ausländischer Truppen sowie die Umsetzung ehrgeiziger Pläne für eine souveräne Entwicklung.
2. Wir sind besonders ermutigt durch die Bildung der Allianz der Sahelstaaten durch diese Länder. Dieser Schritt belebt das Erbe der panafrikanischen Führer und stellt einen konkreten Schritt in Richtung wahrer Unabhängigkeit und panafrikanischer Einheit dar.
3. Diese Regierungen genießen derzeit breite Unterstützung durch ihre Bürger, die diese revolutionären Aktionen vorantreiben und sich dafür einsetzen. Diese Einheit ist für die Verwirklichung demokratischer und patriotischer Ideale von entscheidender Bedeutung und ein erstrebenswertes Entwicklungsmodell für andere afrikanische Nationen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zwar noch viel für die vollständige Befreiung der Sahelstaaten getan werden muss, wir aber optimistisch sind, dass diese Regierungen, indem sie weiterhin auf ihr Volk hören, ihre Ziele für eine vollständige nationale Befreiung erreichen und zum umfassenderen Ziel eines geeinten und freien Afrikas beitragen werden.
Wir stehen an der Seite der populären und revolutionären Kräfte in der Sahelzone in ihrem Kampf für die vollständige und totale Souveränität. Wir verlassen Niamey mit der Verpflichtung, die Fortschritte, die die Menschen in der Sahelzone gemacht haben, zu verteidigen und die internationalistischen Kräfte auf der ganzen Welt für dieses Ziel zu mobilisieren.
Es lebe der Patriotismus, der Antiimperialismus und der Panafrikanismus!
Frankreich und seine Verbündeten, zieht euch zurück!
Am 7. Januar 2005 wurde Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau ermordet und verbrannt. Freunde von ihm organisierten sich und kamen mit The VOICE Refugee Forum sowie der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen zusammen. Anfang 2006 begannen sie eine bundesweite Informations-Kampagne und organisierten am 1. April eine Großdemo für die Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh. In der Folge kämpften sie vor Gericht und in der Öffentlichkeit für Gerechtigkeit und organisierten Solidarität mit den Angehörigen von Oury Jalloh. Die für den Tod von Oury Jalloh sowie weiteren Menschen – Mario Bichtermann und Hans-Jürgen Rose – verantwortlichen Polizisten wurden bis heute zu keinen nennenswerten Strafen verurteilt.
Wir sprachen mit zwei Genossen von der Karawane über den Fall Oury Jalloh, die kolonialen Wurzeln des in Deutschland herrschenden Rassismus und die Zusammenhänge zwischen Kolonialismus, Imperialismus, Flucht und Migration.
Das Interview wurde von Noel Bamen mit Araz und Mbolo geführt, die seit Jahren in der Karawane politisch aktiv sind, in schriftlicher Form geführt.
KO: Seit 2005 kämpft ihr gemeinsam mit anderen für Aufklärung und Gerechtigkeit im Fall Oury Jalloh. Könnt ihr die wichtigsten Etappen dieser 20 Jahre und den aktuellen Stand kurz zusammenfassen?
Karawane: Nach dem barbarischen Mord an Oury Jalloh ging es darum, der Familie und den Freundinnen und Freunden beizustehen und nach Aufklärung zu verlangen. Gleichzeitig waren wir alle, ohne die Einzelheiten und Fakten zu kennen, überzeugt, dass Oury Jalloh brutal ermordet und anschließend verbrannt worden war. In dieser ersten Phase ging es darum, einen öffentlichen Prozess herbeizuführen, dies gelang nur über Beharrlichkeit und mit der Parole „Oury Jalloh, das war Mord!“. Diese Parole störte nicht nur die Polizei und die staatlichen Institutionen, sondern auch linke deutsche Aktivistinnen und Aktivisten sowie Mitglieder der Antirassismus-Szene. Denn ohne Beweise dürfen solchen Parolen nicht gerufen werden. Für uns, Menschen aus Abya Yala [vorkolonialer Name Amerikas, Anm. KO], Afrika und Asien, war jedoch diese Art der Barbarei nichts Neues und reihte sich in die 500-jährige Unterwerfung unserer Kontinente ein. Wir vertrauten unseren jahrhundertelangen Erfahrungen, vor allem dann, wenn uns Freunde von Oury über seine Lebensfreude und über seinen Stolz als Vater erzählten. Wir mussten uns also mit der Parole nicht nur in Dessau gegen die Polizei und die Verwaltungsbehörden durchzusetzen, sondern auch gegen gutgemeinte Ratschläge aus der den Flüchtlingen wohlwollenden Szene deutscher Menschen.
Der erste Etappensieg wurde erreicht und der erste Prozess wurde eröffnet. Hier ging es dann darum, alle zu Tage tretenden Ungereimtheiten zu nutzen, um den rassistischen und barbarischen Hintergrund aufzudecken. Gleichzeitig war es aber allen innerhalb des Netzwerks der Karawane und The VOICE klar: Dieser Kampf muss dazu führen, dass sich Flüchtlinge und Migranten – bewaffnet mit dem Bewusstsein über die menschenfeindliche Haltung der Gesellschaft – stärker engagieren für ihre Zukunft. Das heißt, die Kämpfe gegen Polizeibrutalität, gegen Abschiebung und gegen Eingriffe in unsere Herkunftsländer zu verbinden und der Herrenmentalität als kolonialem Erbe zu begegnen.
Leider haben wir nach dem ersten Gerichtsurteil einen Zerfall und eine Fragmentierung beobachten müssen, wir haben erlebt, wie Vereine und NGOs die Kämpfe in das bürgerliche Lager integrierten und dem Kampf die Spitze nahmen. Jeder wusste, dass Oury Jalloh ermordet worden war, sie wollten alle darüber reden, doch keiner forderte Konsequenzen.
Oury Jalloh war nicht das erste Todesopfer und nicht der letzte Ermordete. Alle konnten gerade im Dezember 2024 sehen, wie die fünf Beamten, die Mouhamed Lamine Dramé in Dortmund mit 18 Kugeln niedergestreckt hatten, freigesprochen wurden. Uns ging es darum, das Thema weiterhin, wenn notwendig, hochzuhalten, es aber zu verknüpfen mit allen anderen Fällen und unserer generellen Arbeit, damit die Kämpfe sich aufeinander beziehen und den Kern des Problems ins Visier nehmen können.
Karawane: Es liegt an der langen Unterdrückung der drei Kontinente während und nach der Kolonialzeit. Es geht darum, dass man die Anderen, denen man das Land, das Eigentum und das Leben brutal nahm und sie ermordete, entmenschlichen musste. Seit dem Disput von Valladolid 1550 [Streit in Spanien um die Rechtmäßigkeit der Versklavung indigener Menschen, Anm. KO] haben diejenigen gesiegt, die die Opfer zum Barbaren erklärten, während sie in den Minen Perus die Menschen abschlachteten, während sie in Kongo die Hände abhackten oder in China die alten Kulturen zerbombten. Diese lange Unterdrückung der Menschheit durch die europäische Minderheit hat zu einem Selbstverständnis geführt, dass hier in Europa und Nordamerika diejenigen sitzen, die wüssten, wie die Welt auszusehen hat. Die anderen Ärmeren und Rückständigeren aus den genannten Kontinenten können es nicht und vor allem nicht besser.
Durch diese Entmenschlichung, die tagtäglich in den Medien, öffentlichen Debatten usw. reproduziert wird, verliert das Leben des „Anderen“ an Bedeutung. Wenn er ein Messer in der Hand hat, wird er sofort erschossen, mit mehreren Kugeln wie Dominique Kouamadio 2006 in Dortmund oder Mouhamed Lamine Dramé 16 Jahre später. Wenn eine Frau wie N’deye Mareame (Maryama) Sarr darauf besteht, ihre Kinder mit nach Hause zu nehmen, wird nicht ihr Mann, der die Kinder zu Unrecht mitgenommen hat, angegangen, sondern Maryama Sarr erschossen. Es wiederholte sich im Gerichtssaal von Dresden am 1. Juli 2009: Marwa El Sherbini, Opfer eines Rassisten, sitzt im Gerichtsaal und wird von dem Angeklagten angegriffen. Marwas Mann, der ihr zur Hilfe rennt, wird von den Polizisten angeschossen, nicht der angeklagte Rassist mit dem Messer. Die 500 Jahre der kolonialen Erziehung spüren wir im Alltag in den Diskussionen, nicht nur als Schwarze, aber besonders als schwarze Menschen. Jedes Leben in der Ukraine ist mehr wert als das Leben Hunderter palästinensischer Kinder und mehr als das Leben einer halben Million Menschen in Tigray. Der Rassismus als logische Folge der kolonialen Gegebenheiten ist Teil dieser Gesellschaft. Das eine wird nicht ohne das andere verschwinden.
KO: Die Karawane versteht sich als antikoloniale Bewegung. Euer Motto ist: „Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört“. Wie hängen Migration und Flucht mit Kolonialismus und Imperialismus zusammen?
Karawane: Der Kolonialismus hat Europa zum Reichtum verholfen. Die Beute war das Startkapital für die Industrialisierung und den Kapitalismus, der sich nun in Imperialismus transformiert hat. Die Parole wurde vom Netzwerk erstmals 1999 in Köln auf dem Gipfel der reichen Industrienationen formuliert. Sie wurde auch schon früher in England von Studenten aus den ehemaligen Kolonien verwendet. Wir haben mit der Parole bewusst die Ursache für Flucht und Migration benennen wollen. Es wurde damals durch die Politik versucht, zwischen „guten und schlechten“ Flüchtlinge zu unterscheiden, zwischen politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen. Wir sagten, dies sei unbedeutend, weil auch die wirtschaftlichen Gründe politischer Natur seien und eine Folge der Aufteilung der Welt.
Schau dir die Zahlen heute an: Nach Jason Hickel und seinen Kollegen raubten die reichen Nationen den Arbeiterinnen und Arbeitern des Südens allein im Jahre 2021 826 Milliarden Stunden ihrer Arbeit. Das englische Imperium hat Indien um 64,82 Billionen Dollar beraubt. Während sich in London auf dem Parkett die Edlen feiern können, verhungern Kinder in Indien oder müssen schon in frühen Jahren arbeiten. Flucht und Migration sind natürliche Folgen der Zustände, die von den alten Kolonialländer geschaffen worden sind und durch die Konzentration der Macht in den entsprechenden globalen Institutionen (Finanzen, Technology, Kommunikation, Agrarwirtschaft, …) immer noch fortgesetzt werden.
Die Parole soll jeden hier in Europa dazu bringen, über seine Rolle als Mensch zu reflektieren und zu entscheiden, was zu tun ist.
KO: Auch Oury Jalloh kam als Flüchtling nach Deutschland. Er galt als „geduldet“. Ihr bezeichnet das deutsche Asylsystem ebenfalls als ein koloniales System. Was meint ihr damit?
Karawane: Oury Jalloh kam als Opfer des Krieges um Blutdiamanten nach Deutschland. Sein Asylverfahren wurde, wie das vieler anderer, abgelehnt. Danach ist man nach deutschem System bis zur Abschiebung nur noch „geduldet“. Wir bezeichnen das deutsche Asylsystem oder besser: seine Instrumente der Abschreckung und der Disziplinierung als Erbe des kolonialen Systems. Die Residenzpflicht schränkt die Bewegungsfreiheit ein, genauso wie in Südafrika oder anderen afrikanischen Ländern wie Togo und Kamerun den Menschen bestimmte Gebiete zugewiesen worden sind. Das Lagersystem, in dem die Menschen jahrelang gehalten werden, zerstört nicht nur die Psyche der Menschen, sondern schafft noch mehr Hass und Hetze. Es ist in den Kolonien erprobt worden und später im deutschen Faschismus perfektioniert worden. Die ersten Konzentrationslager gab es z. B. im heutigen Südafrika, in Namibia und in Algerien.
Neben vielen anderen Beispielen ist vor allem die Haltung der Behörden und Beamten immer wieder die gleiche: Man wird als kleines naives Wesen aus der Wüste oder aus dem Dschungel behandelt. Also sowohl in den Ausführungen der Verwaltungsregeln als auch in der Haltung könnte man das System als kolonial bezeichnen. Zudem schützt das deutsche oder europäische System die geraubten Reichtümer, indem es die rechtmäßigen Besitzer an den Außengrenzen Europas tagtäglich ermordet.
KO: In der politischen Linken gibt es verschiedene Positionen bezüglich Flucht und Migration. Wie müssen aus eurer Sicht antiimperialistische und antikoloniale Grundpositionen zu den Fragen Flucht und Migration in einem Land des imperialistischen Zentrums, wie Deutschland?
Karawane: Wir sind davon überzeugt, dass Flüchtlinge und Migranten sich emanzipieren und solidarisieren müssen. „Die Verdammten dieser Erde“, die in Europa gestrandet sind, müssen sich vereinen und für ihre Anliegen kämpfen. Sie müssen Räume schaffen, um ihre eigenen Anliegen hier formulieren und verteidigen zu können. Sie müssen dabei aufpassen, dass ihre Anliegen nicht von anderen angeeignet und ausgenutzt werden. Grundlage einer echten internationalen Solidarität kann nur eine Analyse der eigenen Geschichte in unseren Herkunftsländern und ein klares Bewusstsein über das tatsächliche Wesen der deutschen Herrschaft sein. Die Demokratie mag eine schöne Hülle sein, um das rassistische Wesen zu verschleiern, welches Oury Jalloh und viele andere ermordet hat, um das brutale kalte Europa zu verstecken, das jährlich Tausende an den Außengrenzen abweist und im Meer oder in Wüsten sterben lässt, um die imperialistische Barbarei zu schmücken, die fast alle aktuell laufenden Kriege zu verantworten hat oder den Genozid in Gaza mit ihrer Waffenlieferungen unterstützt.
Wir können uns nur auf unsere eigene Kraft und Wissen verlassen. Daher sind wir überzeugt, dass wir nur durch gemeinsames Lernen und Solidarität mit den unterdrückten und sich als solche begreifenden Menschen langfristig weiterkommen.
Als Teil unseres Antikolonialen Studienkreises in Duisburg schauen wir als Nächstes gemeinsam einen Film über die Kubanische Revolution. Natürlich könnt ihr auch gerne teilnehmen, wenn ihr bisher nicht beim Studienkreis dabei wart!
🗓 Samstag, 18.01.2025 🕐 18:30 Uhr 📍 Duisburg, genauer Ort auf Anfrage ✉️ Anmeldung: duisburg@kommunistische-organisation.de
Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke
Das Buch »Der Bandera-Komplex« beleuchtet die Ideologie, die Funktion und den Einfluss des Banderismus – vom historischen Ursprung bis zu seiner heutigen Bedeutung im Krieg in der Ukraine.
Wir laden Euch herzlich ein zur Buchvorstellung mit der Herausgeberin Susann Witt-Stahl.